Modemädchen Bd. 1 - Wie Zuckerwatte mit Silberfäden
Bungeespringen funktioniert, aber das heißt noch lange nicht, dass ich es jemals ausprobieren muss. Doch offenbar findet Krähe es vollkommen normal zu versuchen, die Stiche einer echten Dior - Couturière nachzunähen. Und Granny anscheinend auch. Sie wirkt nicht im Entferntesten beunruhigt, als ich es nervös beim Tee erwähne.
Abends schwelgt Granny in Erinnerungen an ihre Pariser Tage und schimpft darüber, wie sich alles verändert hat.
»Zu meiner Zeit waren die Stammkundinnen der großen Designer europäische Prinzessinnen und amerikanische Millionenerbinnen, die sich wie Damen kleideten. Heute sind es Gangsterbräute und Popstars, die sich wie bessere Flittchen anziehen. Ich habe aufgehört zu zählen, wie viele Brustwarzen ich auf dem Laufsteg gesehen habe. Es ist ziemlich abscheulich. Sogar deine Mutter hat dazu gehört, Nonie. Ich weiß nicht, ob ich mich von dem Schock je erholen werde.«
Granny spricht nicht oft von Mums Karriere. Langsam bekomme ich das Gefühl, dass sie neidisch auf Mum ist, die tagaus, tagein die tollsten Klamotten tragen durfte und auch noch dafür bezahlt wurde. Granny wäre das geborene Model gewesen. Sie hatte die Größe, den Schmollmund und das Gehabe. Sie hätte das Aushängeschild Englands werden können. Aber zu ihrer Zeit taten wohlerzogene Mädchen so was nicht. Zumindest hat ihr meine Urgroßmutter das eingeredet.
Krähe sagt nichts. Sie hört einfach nur zu, und gelegentlich sehe ich, wie sich ihre Fingerspitzen bewegen, als würde sie versuchen, sich an die Webstruktur eines bestimmten Stoffs zu erinnern. Oder sie zeichnet ihre tanzenden Mädchen, doch diesmal in Kleidern, die ich wiedererkenne. Stücke von Dior und Saint Laurent, Chanel und Ungaro und andere Lieblingsteile aus Grannys Garderobe. Schnell wie immer bringt sie den Umriss zu Papier, aber dann verbringt sie Ewigkeiten mit dem Schwung einer Tasche, einer Knopfleiste oder dem Aufblitzen glitzernder Stickereien. Mir dämmert, dass sie am Ende unseres Besuches jedes einzelne der Kleider aus dem Gedächtnis nachnähen kann.
Als wir abreisen, macht sich Krähe wie üblich nicht die Mühe, danke zu sagen. Sie steigt einfach ins Auto und setzt sich neben den Korb mit dem in Einzelteile zerlegten Dior-Kleid. Granny wirft mir einen Blick zu, als ich mich neben Krähe quetsche – es ist das erste Mal, dass ich sie enttäuscht von Krähes Benehmen erlebe, oder dem Mangel daran.
Doch als wir zu Hause ankommen, hat sie längst mit Mum telefoniert – praktisch in Tränen aufgelöst, sagt Mum, was das erste Mal wäre, seit Großvater gestorben ist. Wie sich rausstellt, ist Granny in ihr Zimmer gegangen und hat auf dem Bett einneues Kleid gefunden. Krähe hatte eine Bahn lila Samt mitgebracht und Granny daraus ein neues Tunikakleid genäht, in dem sie ihren neuesten Schmuck zur Schau stellen kann. Durch die Kleider vom Dachboden konnte Krähe Grannys Maße so perfekt erraten, dass sie keine einzige Anprobe brauchte.
Ich glaube, wenn Krähe fünfzig Jahre älter und ein Kerl wäre, würde Granny sie auf der Stelle heiraten wollen.
Am Ende hatte Mum Recht.
Was Jenny gefehlt hat, sind gute Miederwaren. Ein Oberteil mit in den Stoff eingenähten Stäbchen, das Jennys Kurven nicht feist, sondern wohlgeformt aussehen lässt und die schlanken Stellen hervorhebt. Es ist vielleicht nicht das bequemste Kleidungsstück der Welt, aber es funktioniert. Frauen haben jahrhundertelang Mieder getragen.
Krähes Entwurf für die National Movie Awards besteht eigentlich aus nicht mehr als einer Korsage mit einem bauschigen Rock. Abgesehen von der Tatsache, dass es nicht einfach zu tragen ist, ist ein Mieder auch nicht einfach zu machen. In der letzten Ferienwoche geht alles drunter und drüber, und vor lauter Zuschneiden und Nähen und Anpassen und Bügeln und Ändern habe ich die Schule fast völlig vergessen. Und das ist ja erst die Probeversion aus Baumwolle, mit der Krähe sich das Schnittmuster erarbeitet. Am Ende muss sie das Ganze noch mal ausweißer Seide nähen. Und als wäre die Herausforderung noch nicht groß genug, hat sie beschlossen, die Korsage mit Strass zu besticken. Yvette hat ein Auge auf sie, zeigt ihr Tricks und besondere Stiche, damit der Stoff sich wie gewollt verhält.
Das Ergebnis ist umwerfend. Jeden Nadelstich und jede Nachtschicht wert. Am Tag vor der Preisverleihung macht Jenny eine Mini-Modenschau für uns, und sie sieht kein bisschen mehr wie Quasimodo aus. Sie sieht aus wie ein Filmstar.
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