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Modemädchen Bd. 1 - Wie Zuckerwatte mit Silberfäden

Modemädchen Bd. 1 - Wie Zuckerwatte mit Silberfäden

Titel: Modemädchen Bd. 1 - Wie Zuckerwatte mit Silberfäden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophia Bennett
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einen Blick hineinwerfen. Es stellt sich raus, dass sie ihre Singer-Nähmaschine mitgebracht hat. Ich glaube, die Nähmaschine ist ihre Art Teddybär. Und sie hat die Geschichte des Hauses Dior dabei. Inzwischen ist sie bei Kapitel zwei.
    Grannys Haus ist riesig, alt und verfallen. Es gibt neun Schlafzimmer, aber nur in fünf stehen Betten, und nur drei davon sind Betten, in denen man auch nur annäherungsweise schlafenkann. Als Harry und ich klein waren, sind wir mit dem Fahrrad im Haus herumgefahren, das war toll, aber nachdem man Dinge tun musste wie in der Waschküche Großmutters alte Strumpfhosen waschen, begann der Schuppen seinen Charme zu verlieren. Außerdem zieht es wie Hechtsuppe, selbst im August. Ich bin froh, dass ich ein paar von Krähes magischen arktischen Spinnwebpullovern dabeihabe. Sie sind kuschelig warm und machen den Aufenthalt erträglich. Ich denke, wenigstens so viel ist sie mir schuldig.
    Die meisten Zimmer im Erdgeschoss sind hochherrschaftlich, aber wenn wir zu Besuch sind, halten wir uns hauptsächlich in der Küche auf, die zuletzt 1972 renoviert wurde, als Granny etwas Geld übrig hatte, das sie nicht für »das Nötigste« brauchte (wie Abendschuhe von Roger Vivier). Den Dachboden habe ich das letzte Mal mit fünf betreten, und ich hatte keine Ahnung, dass zwei der Räume (es gibt mehrere) mit bodenlangen, ordentlich etikettierten Baumwolltaschen vollhängen, gefüllt mit Haute Couture.
    Ich bin beleidigt. Seit ich klein war, habe ich mir von Granny Bücher über Saint Laurent, Vionnet und die anderen großen Meister gewünscht, und alle aus unserer Familie wissen, dass Mode für mich mehr ist als ein flüchtiges Hobby – Mode ist praktisch das einzige Thema, zu dem ich irgendwas zu sagen habe. Trotzdem hat Granny nie daran gedacht zu erwähnen, dass sie EIN GANZES MUSEUM VON DEM ZEUG auf dem Dachboden hat. Beim Abendessen erklärt sie mir ungeniert: »Reines Interesse reicht nicht, meine Liebe. Du musst das Talent haben, etwas daraus zu machen. Sonst würde bald jeder Modeschüler in meinen Sachen herumwühlen.«
    Da hat sie Recht.
    Krähe ist feinsinnig und sorgfältig. Sie wühlt nicht. Jeden Tag, während Granny und ich Karten spielen oder lesen, geht sie hoch auf den Dachboden, als würde sie die Himmelsleiter hinaufsteigen, und nimmt vorsichtig sechs Kleider aus ihren Hüllen. Mit ihren langen Fingern befühlt sie andächtig die Stoffe, die Borten, die Säume, die Nähte. Jeden Tag darf sie eines aussuchen, das Granny für sie anprobiert. Unnötig zu erwähnen (obwohl sie es oft tut), dass Granny immer noch in ihr Hochzeitskleid passt und in all die anderen Sachen, die sie mit zwanzig getragen hat. Wahrscheinlich ist sie heute ein bisschen magerer, aber die Kleider sitzen nicht schlecht.
    »Ich hätte sie euch vererbt«, sagt sie zu mir und streut Salz in die Wunde, »aber deine Mutter ist zu lang und du bist zu kurz. Zu schade, dass dein Vater so … petit war.«
    Es gibt nicht viel, was Granny an meinem Vater gefällt. Wäre sie nicht dahintergekommen, dass sein Großvater ein Graf war, hätte sie wahrscheinlich nie auch nur ein Wort mit ihm gewechselt. Er findet sie toll, aber er nennt sie heute noch: »la belle dame sans merci« – »die schöne Dame Gnadenlos«.
    Eines Tages, nach einer Woche vielleicht, als ich Krähe in ihrem Zimmer besuche, um sie zum Tee zu holen, bekomme ich den Schock meines Lebens. Unter dem Fenster liegt ein Cocktailkleid aus mitternachtsblauer Spitze, in Einzelteile zerlegt. Das Mieder wurde vom Rock entfernt und mehrere Nähte aufgetrennt. Unterröcke liegen überall herum. Einen Moment lang habe ich das Gefühl, ich wäre mitten in einen Tatort hineinspaziert, und fast erwarte ich einen mit Kreide gezeichneten Umriss auf dem Parkett und Experten der Spurensicherung, die auf der Suche nach Blutspritzern am Boden herumkriechen.
    Als ich näher komme, sehe ich das Label: Dior. Das ist Frevel.
    Krähe steht hinter mir und lächelt mich zuversichtlich an.
    »Mein Gott! Was wird Granny dazu sagen?«, stammele ich.
    »Schon gut. Sie hat es mir erlaubt«, sagt Krähe seelenruhig.
    »Aber es ist total zerfetzt.«
    »Natürlich. Ich muss ein paar Änderungen machen. Ich studiere die Nähte.«
    »Du studierst die Nähte? Glaubst du wirklich, dass du das Ding wieder zusammensetzen kannst?«
    Sie zuckt die Schultern, wie sie es immer tut. »Yvette kann mir helfen, aber es ist sonnenklar, wie das Kleid gemacht wurde.«
    Mir ist auch sonnenklar, wie

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