Moderne Piraten
Dragoman weggenommen hatte, offen in der Hand. Sollte er? Sollte er nicht? Ach was! Probieren geht über Studieren. Ein Löffel war nicht bei der Hand. Kurz entschlossen schüttete er sich aus der Schachtel eine Portion von dem Pulver auf die Zunge und begann darauf zu kauen und zu schlucken. Pfui Teufel, wie ekelhaft schmeckte das Zeug, gallebitter und sauer durcheinander! Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Er spuckte, griff nach der Karaffe und stürzte ein Glas Wasser hinunter. Immer noch blieb der niederträchtige Geschmack im Munde. Erst ein zweites Glas, das er in kleinen Schlücken trank, befreite ihn davon. Er schüttelte sich. Alle Wetter, war das ein Reinfall! Die Leute, die daran Geschmack fanden, konnten ihm leid tun. Ein ordentliches Stück Schokolade war doch eine viel bessere Sache. Er steckte die Schachtel wieder in seinen Koffer, kroch in die Koje und fiel fast augenblicklich in einen tiefen, traumlosen Schlaf. —
Die Vormittagssonne schien bereits durch das Bullauge, als die Stimme Gransfelds den Jungen in die Wirklichkeit zurückrief. »Rudi, was ist mit dir los? So die Zeit zu verschlafen! Sonst läßt du doch das Frühstück nicht aus!« Er sah Rudi, der sich schlaftrunken aufzurichten versuchte, schärfer an. Grüngelb sah dieser im Gesicht aus. »Junge, bist du seekrank?« Gransfeld warf einen Blick durch das Bullauge. »Unsinn, die See ist ja spiegelglatt! Menschenskind sprich endlich! Bist du krank?«
Mühsam kam Rudi mit dem Oberkörper in die Höhe. Ein wütender Kopfschmerz hämmerte in seinem Schädel. Jedes einzelne Haar tat ihm weh. Die ganze Welt schien sich um ihn zu drehen. Dazu verspürte er eine scheußliche Übelkeit. Er griff nach der Karaffe und nahm einen Schluck Wasser.
Inzwischen griff Gransfeld nach Rudis Puls. Er ging matt und unregelmäßig.
Lamentatio felium gigantea, stellte Gransfeld bei sich fest und fuhr den Jungen dann an: »Bengel, du hast einen überlebensgroßen Kater! Du mußt gestern abend schandbar getrunken haben. Mit wem hast du dich denn noch herumgetrieben?«
Bei den Vorwürfen Gransfelds sackte Rudi wieder wie ein Häuflein Elend in die Koje zurück und preßte die Hände gegen die schmerzenden Schläfen. Ein heulendes Elend überwältigte ihn. Stoßweise, von Schlucken und Schluchzen unterbrochen, kamen die Worte aus seinem Munde. »Herr Doktor – ich habe nichts getrunken – ich habe – von dem Pulver gekostet …«
»Pulver? Von welchem Pulver?«
»Von dem Rauschpulver, Herr Doktor.«
Einen Augenblick dachte Gransfeld an seine Schachtel. Doch die befand sich ja unter sicherem Verschluß.
»Rauschpulver? Rauschpulver, Junge? Ich verstehe dich nicht. Wie kommst du an das Rauschpulver?«
»Im Splendidhotel – der Dragoman hatte welches. Da habe ich mir heimlich was – heimlich etwas genommen.«
Stück für Stück holte Gransfeld aus dem Jungen die Geschichte heraus und nahm das Schächtelchen an sich. »Bleibe vorläufig in deiner Koje, Rudi! Ich werde dir nachher ein Mittel gegen deinen Kater geben. Bis dahin bereue deine Sünden und versprich mir, nie wieder an solchem Teufelszeug zu lecken!«
»Niemals wieder, Herr Doktor, ganz gewiß: niemals wieder!« rief Rudi stöhnend, als Gransfeld aus der Kabine ging.
Dann saß dieser wieder mit Krone zusammen. Auch dieses Pulver hatte sich bei der Analyse als Heroin erwiesen. »Du siehst, Gransfeld, wie die ganze Welt von den Rauschgiftpiraten verseucht wird. Der Dragoman eines großen Hotels, der im Laufe eines Jahres mit vielen wohlhabenden Gästen zu tun hat – einen besseren Mittelsmann für ihr unsauberes Geschäft können die Kerle nicht finden; der sieht es jedem schon an der Nasenspitze an, ob er als Kunde in Betracht kommt, und verkauft es ihm zu sündhaften Preisen.«
»Man müßte dem Burschen das Handwerk legen«, fuhr Gransfeld auf.
Krone zuckte die Achseln. »Hat wenig Zweck, Gransfeld. Wenn man nicht die ganze Organisation fassen und vor allen Dingen die Quellen verstopfen kann, aus denen die Bande ihre Ware bezieht, dann nutzt das wenig.« Er ging zu dem Apothekenschrank und kam mit einer Arznei zurück. »Hier dieses Mittelchen gib erst mal dem Jungen, damit ihm besser wird! Wir können später noch über die Sache sprechen.« —
Als Rudi am Nachmittag wieder erwachte, hatte das Mittel Krones seine Schuldigkeit getan. Er war imstande, aufzustehen und auf Deck zu kommen.
Gransfeld nahm ihn beiseite. »Laß dir das eine Lehre sein, Rudi! Gewissensbisse darüber, daß
Weitere Kostenlose Bücher