Moderne Piraten
Plötzlich war sie auf ein unsichtbares Hindernis gestoßen, einen unter dem Schnee verborgenen Stein. Der eine Ski zerbrach daran. Sie selbst war gestürzt. Vor zwei Stunden war dies geschehen. Mit Mühe hatte die Freundin sie bis hierher gebracht und war dann nach dem Hotel de Montagne geeilt, um Hilfe zu holen.
Gransfeld bot Susanne Rasmussen seinen ärztlichen Beistand an. Mit größter Vorsicht entfernte er den Stiefel von dem verletzten Fuß und fand den Knöchel stark geschwollen. Als er ihn abtastete und ein paarmal kräftig bewegte, konnte sie einen Schrei nicht unterdrücken.
»Mut, gnädiges Fräulein!« tröstete er. »Ich mußte Ihnen bei der Untersuchung weh tun. Dafür wissen wir jetzt, daß nichts gebrochen ist; es ist nur eine Muskelzerrung. Sie brauchen vollkommene Schonung, und in acht Tagen kann alles wieder gut sein. Aber kühlen wollen wir sofort.« Er ging und brachte seine Mütze mit Schnee gefüllt zurück. Mit einigen Tüchern, die er seinem Rucksack entnahm, legte er einen Schneeverband um das verletzte Glied.
»Keine unnützen Sorgen, gnädiges Fräulein!« suchte Gransfeld seine Patientin zu beruhigen, die immer noch recht schwach schien. »Ich werde selbstverständlich bei Ihnen blei ben, bis die Träger kommen.«
Wohltuend spürte Susanne die Kälte des schmelzenden Schnees, die den Schmerz allmählich betäubte. Ein Stärkungsmittel, das Gransfeld aus seinem Rucksack hervorholte, tat das übrige. Das Blut kehrte ihr in die Wangen zurück, die Schwä che wich, und bald war ein angeregtes Gespräch zwischen beiden im Gang. Von ihrer früheren Pensionszeit in Lausanne erzählte sie; daß sie von Hamburg hierher gekommen sei, um an der Hochzeit einer Freundin teilzunehmen. Dann sprang die Unterhaltung auf Hamburg über, wo ihr Vater ein großes Ausfuhrgeschäft hatte. Wie im Fluge verstrich die Zeit darüber.
Ehe beide es sich versahen, kam die Freundin mit den Trägern vom Hotel zurück.
Gransfeld griff kräftig mit zu. Er half die Patientin auf die Bahre betten und erneuerte den kühlenden Schneeverband.
Dann brachen sie auf. Viel langsamer ging es als auf den Skiern, und erst bei einfallender Dämmerung erreichten sie das Hotel. Hier sorgte Gransfeld für eine zweckmäßige Lagerung seiner Patientin und gab Vorschriften für die Behandlung, bevor er sich auf sein Zimmer zurückzog.
Mancherlei Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als er allein war. Rasmussen? Ausfuhrgeschäft? Hamburg? In Susannes Gegenwart hatte er nicht daran gedacht. Erst jetzt kam ihm die Erinnerung, daß der Name Rasmussen in Hamburg schon einmal sein Interesse erregt hatte. Sein Interesse? Nein, seinen Verdacht! Rasmussen? Ein Name, der an der Wasserkante hundertmal vorkam. Es war nicht sicher, ja nicht einmal wahrscheinlich, daß jener Rasmussen in Hamburg der Vater seiner Patientin war. Susanne die Tochter eines Mannes, der vielleicht zu dieser internationalen Bande gehörte? Das war doch ganz unmöglich! Als unsinnig verwarf er den Gedanken.
*
Ein Brief mit dem Poststempel Gorla kam in der PicadillyStreet in London an. Er war in einer Chiffre geschrieben. Nur die Wissenden der Organisation, die den Schlüssel dazu besaßen, konnten ihn lesen. X. C. 17 – neben dieser Chiffre stand der Name Henke im Schlüssel – meldete in diesem Brief: »Der Fall des früheren Stewards Wagner ist erledigt. Doktor Gransfeld ist nach Genf gefahren und wohnt im Hotel du Lac.«
Ein anderer Brief in der gleichen Chiffre ging von der Picadilly-Street nach Harvestehude in Hamburg. Er enthielt einen Befehl des Chefs an Rasmussen. »Fahren Sie sofort unauffällig, unter dem Vorwand, Ihre Tochter zu besuchen, nach Genf! Steigen Sie im Hotel du Lac ab! Behalten Sie den dort wohnenden Doktor Gransfeld im Auge! Warten Sie neue Weisungen ab!«
Als C. F. Rasmussen den Brief gelesen hatte, setzte er sich unverzüglich auf die Bahn.
Am Montagmittag telephonierte Gransfeld Duprès an, ob Monsieur Megastopoulos sich bereits angesagt habe.
Die Antwort des Direktors enttäuschte ihn. Von Monsieur Megastopoulos war ein Brief aus Paris gekommen, in dem er sich mit ziemlich nichtssagenden Gründen und auf Ungewisse Zeit entschuldigte. Das einzige Ergebnis dieser Telephonunterhaltung war die Pariser Adresse des Griechen, die Gransfeld sich in sein Notizbuch schrieb.
Verstimmt ging er in den Speisesaal. Während die Suppe vor ihm stand, begann er zu überlegen. Sollte er hierbleiben? Das war zwecklos. Sollte er nach Paris fahren und den
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