Modesty Blaise 01: Die tödliche Lady
führte das ‹Netz›. Übrigens – warum hat sie es aufgegeben?»
«Freiwillig liquidiert.» Sie sprach geistesabwesend, ohne an dem Thema wirklich interessiert zu sein. «Als ich siebzehn war, nahm ich mir vor, eine halbe Million Pfund Sterling zu haben. Die habe ich verdient, und daher habe ich Schluß gemacht.»
«Das ist ein Ehrgeiz, der dir nicht in Miss Bales Schule für junge Damen beigebracht worden ist.»
«Der ist mir schon in meinem persönlichen Kindergarten beigebracht worden. Das war ein Gefangenenlager in Griechenland, bald nach Kriegsbeginn. Aber ich glaube, daß wir schon einige Jahre vorher am Balkan herumgehetzt worden sind.»
«Wer ist ‹wir›?»
Sie zuckte die Achseln. «Ich weiß nicht. Es war immer verschwommen, wie ein Traum, an den man sich nicht ganz erinnern kann. Aber allein war ich schon von der Zeit an, an die ich mich wirklich klar erinnern kann.»
«Und ohne einen Namen?»
«Es war niemand da, der mich bei meinem Namen gerufen hätte, also weiß ich nicht, was mein Name ist.»
«Keine Freunde?»
«Erst viel später. Dann hatte ich einen Freund – einen alten Mann, in einem Flüchtlingslager im Irak.»
«Das ist weit weg von Griechenland.»
«Ja. Damals hatte ich schon meinen Weg quer durch die Türkei hinter mir.»
«Quer durch die Türkei», sagte Hagan. «Einfach nur so: quer durch die Türkei.» Er schaute den kleinen Fuß an, der ganz entspannt war, wie sie, das eine Bein über dem anderen Knie gekreuzt, dasaß. «Ein ganz netter kleiner Spaziergang. Aber dann hast du diesen alten Mann gefunden, und er hat sich um dich gekümmert?»
«Nein. Ich habe mich um ihn gekümmert. Von einem Flüchtlings- und Vertriebenenlager zum anderen – ein halbes Dutzend, ungefähr fünf Jahre lang.» Ihre Augen blickten in die Ferne, und sie erinnerte sich mit einer Spur Trauer. «Er war Jude und beherrschte fünf Sprachen. Er war Philosophieprofessor in Budapest gewesen. Er unterrichtete mich täglich sechs Stunden.»
«Worin?»
«In allem.» Sie nahm einen Schluck Kaffee. «Zuerst war es mir gräßlich, aber ich tat so, als hörte ich zu, weil ich ihm nicht weh tun wollte. Und das war sonderbar, denn allen anderen gegenüber war ich unnachgiebig. Nach einer Weile aber begann ich mich für das, was er mich zu lehren suchte, zu interessieren.» Sie schüttelte leicht den Kopf. «Dieser Alte wußte einfach alles, und er verstand es, zu unterrichten. Aber das Essen hätte er sich aus der Hand stehlen lassen. Ohne mich wäre er verhungert.»
«Du hast also seine Leibwache gespielt?»
«Und manchmal hätte ich einen Krummsäbel dazu brauchen können. Aber ich hatte scharfe Zähne, lange Nägel und ein kleines Messer. Und ich wußte, wo’s weh tut.»
«Wie alt warst du damals?»
«Ungefähr zwölf, glaube ich.»
«Und du wärst auch einen Mann angegangen?»
Sie lächelte. «So schwer war’s gar nicht. Erstens hatte ich keine Angst. Das alles hatte man mir längst herausgebrannt. Und zweitens hatte ich die richtige Einstellung, die richtige Geistesverfassung.»
«Was heißen soll?»
«Die meisten Menschen bekommen leicht Angst. Sie haben Angst, daß ihnen weh getan wird, selbst von Kleinen, wenn es nur wild ist. Daher müssen sie sich erst hineinsteigern, bevor sie einen Kampf riskieren.
Schau dir nur einmal zwei Männer dabei an; zuerst gibt’s eine Menge Worte und Rempelei. Alles nur Vorspiel.»
«Stimmt. Bei dir aber nicht?»
«Es gibt einen Punkt, von dem man losgehen muß, von dem an es gefährlich wird, wenn man drum herumschleicht. Da muß man auf den Schalter drücken.
Losschießen wie ein Blitz und so schnell wie möglich zu Ende kommen.» Sie sah ihn an. «Aber dir muß ich das ja nicht erzählen. Wenn du für Tarrant arbeitest, mußt du das ja wissen.»
«Ich kenne das. Aber ich habe früher nicht darüber nachgedacht. Es klingt danach, daß du eine kleine Wildkatze gewesen sein mußt.»
«War ich.» Sie lächelte kurz, verfiel dann in Schweigen und beobachtete eine Yacht, die in den Hafen kam.
«Erzähle weiter», sagte er. «Was geschah zwischen damals und der Modesty Blaise, die das ‹Netz› führte?»
«Das ist eine viel zu lange Geschichte, und schon zu lange her.» Sie schaute auf ihre Armbanduhr. «Wieviel hat dir Tarrant über diese Sache jetzt erzählt, Paul?»
«Alles, vermute ich – aber das ist ziemlich wenig.»
Hagan lächelte sie sorgfältig berechnend an. «Oh, und er sagte, ich bekomme meine Befehle von dir.»
«Ja.» Sie trank ihren
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