Modesty Blaise 01: Die tödliche Lady
Paul.
Hinter der empfindsamen Künstlernatur, die ihn als Liebhaber so großartig befriedigend machte, lag ein stählerner Kern männlichen Stolzes. Sie fragte sich, wie das wohl die vor ihnen liegende Unternehmung beeinträchtigen konnte. Diese Sache war unmöglich als Gruppenleistung auszuführen; Paul würde wahrscheinlich derselben Ansicht sein. Aber trotz Tarrants Befehl würde er die Dinge auf seine eigene Weise erledigen wollen. Die vergangene Stunde hatte nichts dazu beigetragen, die Situation zu verbessern. Gerade weil ihm ihr Körper geliehen worden war, hatte es in ihm das Gefühl geweckt, daß er sie beschützen mußte. Modesty hatte gewußt, daß es vielleicht nicht klug sein würde, es geschehen zu lassen – sie korrigierte sich: Es selbst herbeigeführt zu haben. Aber es war wunderbar gewesen, und sie bedauerte es nicht. Sie drehte sich um, ging durch das kleine Schlafzimmer, in dem Willies Koffer standen, und in den kurzen Gang hinaus, der zum Atelier führte. Immer noch war die kalte Zigarette in ihrer Hand.
«Paul, hast du eigentlich etwas gegen das Rauchen bei Frauen?»
Sie sah ihn am anderen Ende des Ateliers auf dem Boden liegen. An der Seite seines Kopfes war eine rote Schürfspur, und seine Handgelenke waren auf dem Rücken mit einem Stück Sisalschnur gebunden, das von einer noch verpackten Leinwand abgeschnitten worden war. Sie kannte den Mann, der neben ihm auf einem Bein kniete und dessen kleine Augen sie beobachteten, als sie eintrat.
«Wie geht’s, Didi?» fragte sie und ging, ohne Schritt oder Ausdruck zu ändern, weiter. Bei einem weniger geistesgegenwärtigen Mann hätte sie das vielleicht so nahe an ihn herangebracht, daß ein Fußtritt möglich gewesen wäre; nicht aber bei Didi. Bei ihrem zweiten Schritt hob er die Pistole. Mit der anderen Hand, in der er das Schnappmesser hielt, mit dem er die Schnur abgeschnitten hatte, setzte er die Messerklinge an Paul Hagans Schlagader.
«Noch einen Schritt», sagte er auf französisch, und sie blieb stehen. Hagans Augenlider flatterten, er öffnete die Augen, starrte zuerst blind vor sich hin, dann kehrte seine Sehkraft langsam zurück. Sie sah seine Armmuskeln zucken, als er sich gegen die Fessel anspannte. Die Messerklinge wurde sehr leicht niedergedrückt, und Hagan gab nach.
«Leg beide Hände auf den Kopf», sagte Didi zu Modesty. «Und komm zwei Schritte näher. Nur zwei. Und sehr langsam.»
Sie gehorchte und sagte ruhig: «Das wird Pacco nicht gefallen.»
«Nein?» Didi grinste. «Ich will dir sagen, was Pacco nicht gefallen wird. Ihm wird nicht gefallen, daß du und Garvin und dieser Hagan alle miteinander hier seid. Jetzt ist Pacco der Boss, nicht Modesty Blaise.»
Die beiden letzten Worte waren plötzlich haßerfüllt.
Hagan hatte den Kopf Modesty zugekehrt, aber er konnte die federnde Spannung in dem Mann spüren, der neben ihm kniete, und er war erschüttert. Modesty war sechs Schritte entfernt, unbewaffnet und psychologisch dadurch im Nachteil, daß sie nichts als den dünnen Nylonmantel trug. Trotzdem beobachtete sie dieser Mann wachsam, wie ein Jäger eine gefangene Tigerin in der Falle beobachten mochte.
«Alors … Du erinnerst dich an mich?» Didi gebrauchte das vertrauliche «Du» mit einer beleidigenden Betonung.
«Ich habe dich 1961 gesehen, als ich zu einer Konferenz mit Pacco herüberkam», sagte sie.
«Und erinnerst du dich auch an 1962? Damals, als du Willie Garvin zu mir geschickt hast, nachdem ich ein kleines Päckchen Heroin geschmuggelt habe?»
«Rauschgift haben wir nie angerührt.» Sie sprach mit einer Mischung aus Verachtung und Langeweile. «Jeder, der für mich arbeitete, wußte das.»
«Ich weiß nur, daß mein Arm, nachdem Garvin kam, fünf Wochen in Gips war», sagte Didi bösartig, und Hagan spürte, wie der Haß in dem Mann aufwallte. «Ich werde mit ihm darüber reden», sagte Modesty.
«Für Rauschgift hätte es dein Hals sein sollen.»
«Nein, mit Garvin werde ich reden. Wo ist er?»
«Er besucht einen Freund.»
«Ich will ihn hier haben. Pacco sagte mir, ich soll Hagan beobachten. Ich beobachte ihn und entdecke Modesty Blaise. Wo sie ist, da ist auch Garvin nicht sehr weit. Und mit dem will ich fertig werden, bevor ich es Pacco sage.»
Er stieß das Messer in den Boden und drückte sofort den Lauf der Beretta an Hagans Kehle, ohne seine Augen von Modesty abzuwenden.
«Du rührst dich, und ich bringe ihn um», sagte er einfach und warf ihr mit der freien Hand eine dreißig
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