Modesty Blaise 05: Die Goldfalle
einen Augenblick, um sich in Willies Lage zu versetzen. Seine Selbstvorwürfe mußten erbarmungslos sein. Von dem Augenblick an, da Lisa in
The Treadmill
aufgetaucht war, hatte er eine List vermutet, hatte erwartet, hereingelegt zu werden, und trotzdem hatte dieses Albino-Mädchen ihn am Ende übertölpelt. Das war ein unglaublicher Fehler, der nicht wiedergutzumachen war.
Er würde sich das nie verzeihen – selbst wenn er die Gelegenheit bekäme, es wiedergutzumachen. Sie sah wieder Brunel und das Mädchen an, dann Chance und Jacko Muktar. Keiner sagte etwas. Keiner ließ erkennen, daß er bemerkt hatte, daß sie zu sich gekommen war. Neben ihr bewegte sich Pennyfeather und stöhnte leise. Jacko schien jetzt zu dösen. Adrian Chance hatte einen Bleistift hervorgeholt und rechnete auf dem Rand der Zeitschrift etwas aus. Brunel las in einem Buch mit harten Deckeln. Aus dem Schutzumschlag ersah sie, daß es sich um einen Band der Memoiren von General de Gaulle handelte.
Lisa tat nichts. Sie wirkte überanstrengt und durchaus nicht triumphierend. Sie saß da und starrte aus dem Fenster, nicht so, als betrachtete sie die Wolken oder die Erde tief unter ihnen, sondern so, als lauschte sie. Der Gesamteindruck war eigenartig, ein bißchen unheimlich. Gelegentlich drehte sie den Kopf, schaute sich in der Kabine um und sah dabei wohl auch für einen Moment Modesty an, aber mit nicht mehr Interesse, als wenn die beiden Fluggäste auf einem Linienflug gewesen wären. Kein einziges Mal blickten die Augen hinter den dunklen Gläsern auf Willie Garvin.
Modesty registrierte die Tatsache, daß Lisa Brunel sich nicht über ihren Erfolg freute. Das war sonderbar, aber sie würde es sich merken. Es konnte noch einmal nützlich werden. Brunel blätterte um. Dabei hob er für einen Moment den Kopf, und seine Augen ruhten auf Modesty, ohne Interesse oder Neugier. Dann schaute er auf die neue Seite und las weiter.
Im Augenblick war nichts zu tun, gar nichts. Die derzeitige Konstellation bot keine Gelegenheiten. Sie kämpfte eine neuerliche Welle der Übelkeit nieder und überdachte die größeren Zusammenhänge. Sie waren in eine sehr unangenehme Lage gekommen. Wenn sie es gewagt hätte, sich ihrer Angst zu überlassen, wäre sie dieser Angst erlegen. Aber sie waren noch am Leben, und es sah so aus, als würden sie auch noch eine Weile am Leben bleiben. In einer unangenehmen Lage war sie schon oft gewesen, aber es hatte sich noch immer ein Ausweg gefunden. Das brauchte nicht immer so zu sein, würde vielleicht diesmal nicht so sein, aber daran durfte sie gar nicht denken. Mit der Zeit lernte man, nur an das zu denken, was einem helfen konnte, wenn der Augenblick kam, der Augenblick, in dem sich eine Gelegenheit bot.
Brunels Motive waren wichtig. Hätte er aus Rachedurst gehandelt, wären sie jetzt sicher schon tot gewesen. Also hatte er sie aus einem anderen Grunde in die Falle gelockt. Die Koordinaten Nowikows? Möglich, aber es mußte noch etwas anderes sein. Brunel hatte nicht mit Sicherheit wissen können, daß sie Giles Pennyfeather nach Frankreich mitnehmen würden. Was also dann?
Sie dachte an die Unterredung mit Brunel in ihrem Penthouse. Er hatte gesagt, er sei an Rache als Selbstzweck nicht interessiert, er sei ein Realist. Sie glaubte ihm das immer noch. Man sah es ihm an. Er mußte einen Grund dafür haben, daß er sie nach Ruanda brachte, vielleicht mehrere Gründe. Sie dachte angestrengt nach, fand aber keine Erklärung, und das ärgerte sie. Wenn man es mit einem Gegner zu tun hatte, dessen Motive man nicht ergründen konnte, war es unmöglich, seine Handlungsweise vorherzusehen. Es war, als würde man versuchen, mit verbundenen Augen zu kämpfen.
Sie sah sich wieder um und versuchte genausowenig Interesse zu zeigen wie Brunel. Was bezweckten sie mit dieser Taktik? Chance und Muktar hätten vor Schadenfreude ganz aus dem Häuschen sein müssen. Das Albino-Mädchen hätte strahlen müssen über ihren Erfolg, sich etwas darauf einbilden. Und Brunel? Sie wußte es nicht. Sie wußte nur, daß jetzt die Initiative bei ihm lag, uneingeschränkt, und daß er sie nutzen würde, um sein Ziel zu erreichen, worin dieses auch bestehen mochte, mit all der bewährten Schläue und leidenschaftslosen Grausamkeit, die in seiner Natur lagen.
Sein Ziel. Immer wieder kam sie darauf zurück, und es machte sie nervös, daß sie dieses Rätsel nicht zu lösen vermochte. Wieder zwang sie sich, ruhig zu sein, mit all den geistigen Tricks,
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