Modesty Blaise 06: Die Lady macht Geschichten
geschehen!» Er sah, daß Modesty ihre Maske abgelegt hatte, und entledigte sich dankbar der seinen. Mit dem Hemdsärmel fuhr er sich über die feuchte Stirn. «Ich frage mich bloß, was sie als Zugabe bereithält!»
«Ich glaube, das war die Zugabe», sagte Modesty langsam und sah Leybourn an. Willie wartete ohne jede Ungeduld, froh, ihr alle Entscheidungen überlassen zu können. Sie hatte genug nachzudenken.
Er bedauerte nicht, daß Leybourn tot war, und warf auch dem Mädchen nicht vor, daß sie ihn getötet hatte.
Aber er wünschte, sie hätte einen anderen Abend für ihre impulsive Tat gewählt. Es machte die Dinge so schrecklich kompliziert.
Modesty Blaise sagte: «Erledigen wir das so einfach wie möglich. Wenn ich es verhindern kann, wird man dieses Mädchen nicht jahrelang einsperren. Und sie kommt bestimmt ins Gefängnis, wenn man sie fängt – trotz aller Wunden und Narben. Wenn man von einem Ehemann so behandelt wird, dann verläßt man ihn, aber man bringt ihn nicht um.»
«Sie ist Orientalin, Prinzessin.»
«Ich weiß. Aber sie tötete ihn
hier
.» Modesty ging zu dem Mädchen und schlug ihr kräftig ins Gesicht. Soo Leybourn zuckte kaum zusammen, doch ein vages Bewußtsein drang in ihre Augen.
Modesty sagte: «Schau mich an», und schlug nochmals zu. Das Mädchen schüttelte den Kopf, als wollte sie ihn klarer machen, dann plötzlich huschte ein ganzes Kaleidoskop von Gefühlen über ihr Gesicht – Angst, Schrecken, Verwirrung, Trauer und schließlich ein müder Fatalismus.
«Du weißt, daß du deinen Mann getötet hast?» fragte Modesty.
«Ja.» Die Stimme war ein unterwürfiges Flüstern.
«Du weißt, daß die Polizei kommen und dich einsperren wird?»
Der dunkle Kopf nickte.
«Willst du fort von hier? Fliehen?» Ein müdes, hoffnungsloses Achselzucken. «Ich kann nirgends hingehen.» Die geflüsterten Worte waren sorgfältig artikuliert.
«Hast du keine Familie?»
In den Augen, die ohne Hoffnung in eine unendliche Ferne starrten, stiegen plötzlich Tränen auf. «Meine Familie ist zu weit weg. Sie ist in Kalimbua.»
«Ist das eine große Stadt?»
«Nein. Klein. Ein Dorf.» Die schönen Hände machten eine vage Bewegung und sanken wieder in den Schoß. «Teils zu Fuß, teils mit dem Bus drei Tage von Surabaja.»
«Stehst du mit deiner Familie in Verbindung? Schreibst du Briefe?»
«Charles erlaubte mir nicht zu schreiben. Er sagte, ich gehöre nicht mehr zu meiner Familie, weil er meinem Vater viel Geld für meinen Ankauf gezahlt hat. Mehr als hundert Dollar.»
Modesty blickte Willie an, dann wieder das Mädchen. «Bekamst du jemals einen Brief von deiner Familie?»
«Zweimal kamen Briefe meines Vaters, die irgend jemand für ihn geschrieben hat. Charles zeigte sie mir, aber er ließ sie mich nicht lesen. Dann verbrannte er sie.» Sie sprach ohne Bitterkeit.
Modesty holte tief Luft und blies sie hörbar wieder aus. Jetzt war das Bild im wesentlichen klar. Soo Leybourn stammte aus einer Bauernfamilie, die zufällig ein Kind von seltener Schönheit gezeugt hatte. Wie Charles Leybourn sie kennengelernt hatte, war gleichgültig. Er besaß Gummiplantagen in Java und konnte das Mädchen im Laufe seiner Reisen in den Fernen Osten bei Dutzenden Gelegenheiten getroffen haben.
Irgend etwas an ihr fesselte seine perverse Phantasie.
Vielleicht ihre Unterwürfigkeit. Er kaufte sie, heiratete sie, brachte sie nach England. Sie war das ideale Geschöpf, seine seltsamen Begierden zu befriedigen.
«Möchtest du zu deiner Familie zurückkehren?», fragte Modesty.
Der Hoffnungsstrahl in Soo Leybourns Augen wurde sofort wieder von einem ergebenen Fatalismus gelöscht. «Sie ist zu weit weg. Es ist nicht gestattet. Charles sagte es mir.»
«Charles hatte unrecht. Du kannst zurückkehren. Wird deine Familie dich aufnehmen? Und willst du zurück?»
Das Mädchen hob den Kopf und starrte eine Weile verwundert vor sich hin. Dann versuchte sie zu sprechen, begann zu schluchzen und nickte wieder und wieder, als könnte sie nicht aufhören. Modesty hielt sie an den Schultern, bis sie sich beruhigt hatte, dann sagte sie: «Kannst du englisch schreiben?»
«Ein wenig. Ja.»
«Dann schreib, was ich dir sage. Bitte such ein Blatt Papier, Willie.»
Fünf Minuten später lag auf dem Schreibtisch unter einem Briefbeschwerer ein mit kindlicher, mühsamer Schrift geschriebener Brief:
Ich kann hier nicht glücklich sein, weil ich Angst habe, daß Du mir weh tust. Bitte versuch nicht, mich zu
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