Modesty Blaise 06: Die Lady macht Geschichten
Charles Leybourn war tot. Der Messergriff ragte aus seiner Brust wie ein schönes, böses Gewächs. Modesty nahm den Rucksack, der jetzt vollgestopft mit Dollar-Noten war. «Etwas ungewöhnlich, ja, Willie, Liebling», stimmte sie zu.
Die Polizei brauchte 24 Stunden, um weitgehend sicher zu sein, daß es sich bei dem verkohlten Leichnam in dem ausgebrannten Auto um Charles Leybourn handelte. Die Nachricht bewirkte einige Bewegung auf der Börse.
Die Tatsache, daß Leybourns Frau am Abend seines Todes weggelaufen war, erweckte einen naheliegenden Verdacht, der jedoch bald wieder fallengelassen wurde.
Die Erkundigungen ergaben eindeutig, daß Mrs. Leybourn, das Mädchen aus dem Osten, gänzlich unfähig gewesen wäre, mit den technischen Schwierigkeiten eines fingierten Autounfalls ihres Mannes fertig zu werden. Sie konnte nicht einmal chauffieren und war ohne Zweifel in der Villa, als ihr Mann
Crockfords
verließ, um nach Hause zu fahren.
Daß sie diesen bestimmten Abend gewählt hatte, um ihn zu verlassen, war ein erstaunlicher Zufall. Es blieb ein Zufall, war aber nicht mehr so erstaunlich, als die Peitschen und Stäbe, die Fesseln und andere seltsame Geräte in Leybourns exotischem Schlafzimmer gefunden wurden.
Der Mann war also ein perverser, bösartiger Sadist gewesen, und sie war ihm davongelaufen. Das war nicht weiter verwunderlich. Die Polizei stellte die üblichen Nachforschungen an, um sie zu finden, und Leybourns Nachlaßverwalter veröffentlichten eine dringende Aufforderung, sie möge sich in Sachen Erbschaft ihres Gatten melden. Der Aufforderung wurde nicht entsprochen.
Doch lange bevor dies geschah, ja noch bevor die Polizei feststellte, daß der verbrannte Fahrer Leybourn sein mußte, stand Modesty Blaise in der Wartehalle des Flughafens Dublin. Der Nachtflug nach New York wurde eben zum erstenmal ausgerufen.
«Du bist auf dem Weg nach Hause, Soo», sagte sie.
«Mach dir keine Sorgen. Vergiß bloß nicht, daß du wieder deinen Mädchennamen trägst. Und wenn du Geld brauchst, hast du mehr als genug in deiner Tasche.» Sie wies auf das kleine Necessaire. «Laß das niemals irgendwo stehen.»
Soo Leybourn nickte folgsam. Sie trug einen blauen Konfektionsmantel und ein graues Kopftuch. Während der letzten 24 Stunden hatte sie keine Fragen gestellt, kein Erstaunen geäußert, keine Angst gezeigt, kein Dankeswort gesagt. Ihre Augen waren weit fort, auf ein fernes Ziel gerichtet.
«Weiter kann ich dich nicht begleiten», sagte Modesty. «Geh einfach der Stewardess und den anderen Passagieren nach zum Flugzeug. Morgen bist du in Panama, und sehr bald wirst du zu Hause bei deiner Familie sein.»
Soo Leybourn starrte vage über Modestys Schulter und sagte: «Wenn ich wieder bei meiner Familie bin, werde ich glücklich sein.»
«Bestimmt. Aber sprich zu niemandem über das, was heute nacht geschah. Vergiß, daß du Charles Leybourn jemals kanntest.» Das Mädchen schloß für einen Augenblick die schönen dunklen Augen und öffnete sie wieder. «Ich kann nicht vergessen. Aber ich werde niemals sprechen.» Sie hielt inne, ihr Blick sammelte sich, und zum erstenmal sah sie in Modesty Blaise einen Menschen und nicht nur eine Stimme, die sie lenkte und führte. In leisem, traurigem Flüsterton sagte sie: «Was ich tat, war sehr schlecht, sehr böse.»
Modesty zuckte die Schultern. Sie hätte es eher als dumm bezeichnet. Doch Soo Leybourn kam aus einer anderen Welt, und es hatte keinen Zweck, ihr zu erklären, daß man einen sadistischen Ehemann nicht töten muß, um ihn loszuwerden. «Versuche keine Schuld zu fühlen», sagte sie. «Er hat dir sehr weh getan. Ich sah es.»
Ein langsames verwundertes Hochziehen der Brauen. «Wie bitte?»
Modesty spürte Ärger in sich aufsteigen. Soo Leybourn hatte sie während der letzten 24 Stunden oftmals irritiert. «Ich sah deinen Körper», erklärte sie geduldig.
«Ich sah die Dinge, die er dir angetan hat. Also kann ich das, was du getan hast, gut verstehen.»
«Oh», das Mädchen nickte ernst, jedoch immer noch verständnislos.
Dann dämmerte Verständnis in ihren Zügen, gefolgt von Erstaunen. Langsam schüttelte sie den Kopf.
«Es war nicht deswegen. Nicht, weil Charles mir weh tat.» In ihrer ruhigen Stimme lag die Andeutung eines Schocks.
«Nicht deshalb?» Modesty starrte sie fassungslos an.
«Nein.» Ein Schatten von Stolz huschte über Soos Gesicht. «Charles war mein Gatte. Es war meine Pflicht, ihn glücklich zu machen, und ich tat es.» Der
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