Modesty Blaise 06: Die Lady macht Geschichten
stieß einen seltsamen Zweiton-Pfiff in Moll aus – leise, aber durchdringend wie ein Vogelruf. Dreißig Sekunden später erschien Willie Garvin in der Tür, einen Strumpf über den Kopf gezogen. Als er sah, daß Modesty die Maske abgenommen hatte, zog er den Strumpf aus, machte ein paar Schritte vorwärts und blickte verständnislos von der zusammengesunkenen Gestalt des Mädchens auf das Messer auf dem Boden.
«Sie war eben im Begriff, sich zu töten», sagte Modesty ruhig. «Wir haben einen schlechten Abend gewählt.» Sie blickte auf das Mädchen hinab. «Oder einen guten. Trag sie auf das Bett, Willie.»
Er hob sie mühelos auf und ging um das Bett. Als er sie auf die Seite bettete, rutschte der Morgenrock von ihrer Schulter. Er streckte die Hand aus, um ihn hinaufzuschieben, hielt inne und atmete hörbar aus. Sanft schob er die rot-goldene Seide tiefer.
Modesty stand neben ihm und starrte den Körper an. Soo Leybourns Rücken war mit kleinen Narben übersät. Manche waren dünne Linien, andere kleine, runde Flecken; manche alt und zu weißen Malen verheilt, andere neu und flammend rot. Frische, blutunterlaufene Stellen und alte, gelbliche.
Modesty schob den Seidenmantel weg; bei den Schultern anfangend verteilten sich die Narben und Wunden über den Körper und das Gesäß des schönen, zarten Körpers.
Willie Garvin flüsterte: «Du meine Güte!»
Modesty drehte das Mädchen auf den Rücken.
Auch die Vorderseite ihres Körpers sah ähnlich aus – vom Brustansatz bis zu den Hüften mit Flecken und Malen bedeckt.
«Popo-Zwicken genügt ihm anscheinend nicht», sagte Modesty mit zusammengepreßten Lippen. «Die runden Narben stammen von Zigaretten her, vermute ich. Und die Linien – nun, ich glaube, wir würden, wenn wir suchten, irgendwo eine kleine Peitsche finden.»
Zorn und Ärger lagen in Willies Blick. «Leybourn ist also ein echter Sadist», sagte er. «Und dies hier ist seine Leidenschaft. Armes kleines Ding.» Er beugte sich über das Mädchen und bedeckte es wieder mit dem Mantel. «Was willst du tun, Prinzessin?»
Modesty antwortete nicht sofort. Als sie endlich sprach, ruhten ihre Augen immer noch auf dem glatten, leeren Gesicht des Mädchens. Jetzt, da die Augen geschlossen waren, war es völlig ausdruckslos. Die Brunnen der Trauer waren verborgen. «Wir können nichts für sie tun, außer Leybourn das Genick brechen», sagte sie langsam. «Heute abend haben wir ihren Tod verhindert. Aber es gibt viele Abende.»
«Ihm das Genick zu brechen, würde mir wenig ausmachen», sagte Willie schlicht. «So wie das aussieht, ist es eine Frage, ob er oder sie überlebt.»
«Sie muß selbst eine Lösung finden», sagte Modesty resigniert. «Sie könnte ihn zum Beispiel verlassen. Aber sie ist Orientalin, und vielleicht ist ein zu großer Gesichtsverlust damit verbunden. Jedenfalls ist es nicht unsere Aufgabe, den Frauen ihre Ehemänner aus dem Weg zu räumen.» Sie sah auf die Uhr. «Bist du unten mehr oder weniger fertig?»
«Ich brauche noch ein paar Minuten.» Willie blickte sie an. «Also machen wir weiter?»
«Warum nicht? Leybourn wird ein paar Tage an anderes zu denken haben.» Modesty zog eine kleine Schachtel mit anästhetischen Nasenstiften hervor und legte einen auf ihre Handfläche. «Ich gebe ihr eine kleine Dosis, damit sie eine Weile ruhig bleibt, dann drehe ich das Licht ab und komme dir nach.»
Willie nickte und verließ das Zimmer. Er wußte, daß das Abenteuer für ihn wie für Modesty seinen Reiz verloren hatte. Sie würden ihre Arbeit beenden, weil es keinen Grund gab, es nicht zu tun, aber das Wissen, daß ein Mädchen in einem fremden Land zum Selbstmord getrieben wurde und man nichts dagegen tun konnte, ließ kein Vergnügen aufkommen.
Charles Leybourn fuhr sein Auto in die Garage und betrat – seine beiden Schlüssel benutzend – durch die Eingangstür das Haus. Er blieb stehen und runzelte die Stirn, als er sah, daß die Tür zu seinem Arbeitszimmer halb offen stand und das Licht brannte.
Er preßte die Lippen zusammen. Soo hatte keine Erlaubnis, sein Arbeitszimmer zu betreten. Auch hatte er sie zu wiederholten Malen angewiesen, die Alarmanlage auszuprobieren, alle Lichter zu löschen und die Türen zu schließen, bevor sie zu Bett ging. Sein Gesicht entspannte sich zu einem seltsamen Lächeln. Dafür würde man sie bestrafen müssen.
Er ging in sein Arbeitszimmer, um die Tischlampe abzudrehen, und blieb – wie vom Schlag gerührt – stehen. Neben einem nahe dem
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