Modesty Blaise 09: Die Lady fliegt auf Drachen
Der Lieferwagen war bereits in der Ferne in einem Wald verschwunden. Kingston schüttelte den Kopf, als sei er betäubt und müsse sich sehr anstrengen, um aufzustehen. Dann fiel er auf die Schenkel zurück und starrte den Mann an, der in einem Rüschenhemd und einem blaßgrünen Anzug vor ihm stand. «Was, zum Teufel, fällt Ihnen ein?» knurrte er. «Nehmen Sie dieses klebrige Zeug von meinen Gelenken.»
Mißbilligend hob Beauregard Browne eine schlaffe Hand. «Ach, Sie schrecklicher Dickie. Darf ich Sie Dickie nennen? Es ist sehr schlimm von Ihnen, sich so erstaunt zu stellen, wo Sie doch sehr gut wissen, daß Sie uns geärgert haben. Sie wußten natürlich nicht, daß wir es waren, wenn Sie verstehen, was ich meine, aber Sie wissen, daß Sie jemanden geärgert haben. Nicht daß wir nachtragend sind. Kommen Sie, stehen Sie auf, und wir werden ein hübsches Picknick machen.»
«Das werden Sie mir büßen, Sie Hanswurst», sagte Kingston aggressiv. «Sie jagen eine Nadel in meinen Hals, betäuben mich, bringen mich hierher, und dann reden Sie von einem Picknick.»
«Ach, mach schon, Kleiner. Vergeuden Sie nicht so viel Zeit mit diesem Theater. Wollen Sie die ganze Nacht hier hocken?»
«Ich habe ein krankes Bein. Helfen Sie mir, Sie Affe.» Beauregard Browne strahlte ihn an. «Schlimmer Dickie! Wer plant denn da einen seiner alten AgentenTricks? Ein Knie in die Geschlechtsteile und einen Stiefel an den Kopf? Unser krankes Bein ist ganz bestimmt nicht so krank.» Sein Arm holte weit aus. Etwas berührte leicht Kingstons Wange und legte sich dann um seinen Hals. Er sah einen glänzenden Draht, der von unterhalb seines Kinnes bis zu der eleganten Hand reichte, die das andere Drahtende an einem Holzgriff hielt. Die Hand bewegte sich ein wenig, und wieder spürte Kingston den Würgegriff einer Drahtschlinge um den Hals.
«Auf», befahl der Mann, und Kingston war rasch auf den Füßen. Gemeinsam gingen sie zum nächsten Hangar. Er stellte fest, daß der Cherub sich mit femininer Grazie bewegte, die gut zu seinem Auftreten und seiner Erscheinung paßte, aber Kingstons Urteilsvermögen war durch harte Erfahrung geformt worden, und er machte sich hinsichtlich dieses Burschen keinerlei Illusionen. Dieser Mann war sehr stark, sehr schnell und seiner Fähigkeiten völlig sicher. Es war auch nicht die falsche Sicherheit eines Narren, und Kingston mußte plötzlich einen Anfall von Angst niederkämpfen.
Sie betraten den Hangar durch eine Seitentür. Ein Ende war weit geöffnet, die großen Rolltüren in ihrer Position eingerostet, und obwohl das Innere von der Sonne abgeschirmt war, gab es immer noch genügend Licht. Der Cherub, wie Kingston ihn jetzt ständig in Gedanken nannte, machte eine weit ausholende Geste und sagte: «Ich hoffe, Sie werden bei unserem Picknick herzhaft zugreifen, mein Süßer.»
An einer Wand des Hangars hatte man einen Klapptisch aufgestellt. Auf einem bunten Papiertischtuch war ein Imbiß vorbereitet: Aufschnitt, Salate, Brötchen, Butter, Käse, Keks und ein paar Flaschen Rose. Um den Tisch saßen auf Klappstühlen drei Personen: ein hagerer Priester mit dem Gesicht eines Fanatikers, daneben ein Chinese in einem grauen Anzug und ihm gegenüber ein rothaariges Mädchen mit schönen starken Zügen und einem üppigen, aber wohlgeformten Körper.
Kingston spürte, wie ihm jedes Realitätsgefühl zu entschwinden begann, und innerlich fluchend riß er sich zusammen. Ein Chinese. Das paßte zu Fletchers Alptraum, und Kingston wußte jetzt, daß er sich inmitten der Organisation befand, die für das verantwortlich zeichnete, was Fletcher zugestoßen war. Seine Neugierde war geweckt, aber sein Instinkt warnte ihn und riet ihm zu verschwinden, und zwar rasch.
Irgendwo mußte ein Auto stehen, vermutlich hinter dem Hangar. Der Schlüssel würde bestimmt nicht stecken, aber wer würde ihn haben? Keine Hinweise, nur ein Ratespiel. Vermutlich hatte ihn weder der Priester noch der Chinese. Der Cherub? Vielleicht. Aber eher noch das Mädchen. Sie sah normal und tüchtig aus. Noch wahrscheinlicher, daß ein Fahrer im Wagen wartete und der Schlüssel im Zündschloß steckte. Ja. Darauf vertrauen und auf eine Gnadenfrist von fünf Sekunden, von dem Moment an, in dem man das Auto erreicht hatte. Wenn man es erreichte …
«Das ist Clarissa», sagte der Mann mit den veilchenblauen Augen, «das ist Dr. Feng, und das hier Reverend Uriah Crisp.»
Mit kräftigen, eleganten Fingern wies er auf seine Brust. «Ich bin
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