Modesty Blaise 10: Der Xanadu-Talisman
Welt weiß. Und dieser eine ist auch Arzt. Nach einem besonders schlimmen Abenteuer weine ich manchmal vor mich hin. Ich kann nichts dagegen tun. Dann nimmt mich Willie Garvin in die Arme und streichelt mich, und nach einer Weile geht es mir wieder gut.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich habe nie gedacht, dass es eines Tages auch andersherum sein könnte.«
Sie stand auf und zog einen knöchellangen Dressinggown aus blassblauem Samt an. Dann beugte sie sich herab und küsste Pennyfeather auf die Spitze seiner langen Nase. »Nach all diesen Eröffnungen wird es hoffentlich Willie Garvin sein, der unten auf mich wartet, Herr Doktor.« Willie hatte eine Lampe angezündet, saß angezogen auf dem Sofa und blätterte in einem Magazin. Als sie ins Zimmer kam, schaute er erstaunt auf, dann lächelte er sie fröhlich an und erhob sich. »Hallo, Prinzessin, habe ich dich geweckt? Tut mir leid.«
»Setz dich, Willie, mein Lieber. Nein, du hast mich nicht geweckt. Es scheint eine Nacht zu sein, in der niemand Schlaf findet.« Sie schloss die Tür. »Ich sehe, dass du alle Versuche aufgegeben und dich angezogen hast. Bereiten die Verbrennungen Schmerzen?«
»Nein, es geht ganz gut.« Er hatte sich nicht gesetzt, sondern wanderte, die Hände in den Taschen, ziellos umher. »Ich hatte überlegt, ein wenig ins Freie zu gehen, daher hab ich mich angezogen.«
»Wenn du spazieren gehen willst, begleite ich dich.«
Er schnitt eine kleine Grimasse. »Kaum war ich hier unten, hatte ich keine Lust mehr. Dann wollte ich eine Tasse Tee machen, aber auch dazu verging mir die Lust. Also bin ich bloß herumgesessen und habe auf eine Inspiration gewartet.«
Sie setzte sich ans andere Ende des Sofas, drehte sich so, dass ihr Rücken in der Ecke war, und legte die angezogenen Beine herauf, sorgsam darauf bedacht, dass ihr Dressinggown sich nicht öffnete. Unter normalen Umständen wäre das ganz gleichgültig gewesen, denn die beiden konnten nackt miteinander spazieren gehen, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Doch heute Abend wollte sie jedes Missverständnis vermeiden.
»Kann ich dir etwas bringen, Prinzessin? Einen Drink? Oder wie wäre es mit einer Partie Backgammon?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist angenehm, eine Weile nur ruhig zu sein. Komm, setz dich zu mir, Willie.« Sie klopfte auf das Kissen neben sich. Als er gehorchte, legte sie eine Hand auf seinen Arm und sagte:
»Giles hat mir erzählt, dass du Mund-zu-Mund-Beatmung versucht hast, um Martel am Leben zu erhalten. Es tut mir so Leid.«
Er lachte kurz auf und sah auf die Hände in seinem Schoß herab. »Ich habe mir immer eingebildet, einen starken Magen zu haben, aber wenn diese kleine Erinnerung etwas verblasst ist, werde ich froh sein.«
»Wir werden nicht mehr darüber sprechen. Du sollst nur wissen, dass ich davon weiß.« Sie legte einen Arm um seine Schultern, zog ihn zu sich und bettete seinen Kopf in die warme Grube zwischen ihrer Schulter und ihrer Brust.
»Ich weiß, was wir tun. Du erzählst mir eine Geschichte, Willie.«
»Was für eine Geschichte, Prinzessin?«
»Ach … von einem deiner Mädchen. Warte einen Moment. Leg deine Füße hoch und mach es dir bequem. Ist das angenehm so?«
Wieder ein kaum hörbarer Seufzer. »Das ist köstlich, Prinzessin. Lass mich nachdenken. Hab ich dir schon von meinem ersten Mädchen erzählt?«
»War das nicht die Tochter des Pförtners im Waisenhaus? Das Mädchen, das ›muntere Annie‹ genannt wurde und das du bei einem Spiel gewonnen hast?«
»Ach, das hab ich dir also erzählt. Und auch von meinem zweiten Mädchen, Grace?« Seine Worte klangen fröhlicher, und sie spürte, wie seine Spannung wich.
Sie sagte: »Nein, von Grace weiß ich nichts.«
»Ich habe sie kennen gelernt, als ich fünfzehn war und vom Waisenhaus ausgeschickt worden bin, ein Handwerk zu lernen. In der Werkstätte waren noch zwei andere Jungen, und wir haben sie ›nimmermüde Grace‹ genannt … Sie war etwa dreißig und mit einem viel älteren Mann verheiratet, der die Reparaturwerkstätte für Radios und Fernsehapparate geleitet hat, in der wir gearbeitet haben. Sie war mollig und munter und hatte nur zwei Dinge im Kopf: das Bett und das Fernsehen. Jede Art von Fernsehen, von wissenschaftlichen Vorträgen bis zur Kinderstunde.« Er lachte schläfrig. »Mit dem Fernsehen gab es keine Probleme. Sie hat sogar an der Wand ihres Schlafzimmers einen Fernseher gehabt. Aber ihr Mann Arthur war nicht mehr an Sex interessiert. Er
Weitere Kostenlose Bücher