Modesty Blaise 10: Der Xanadu-Talisman
machte er sie zumindest kampfunfähig. Und der zweite Schlag würde letal sein.
Fünf Schritte vor ihm blieb sie stehen, die Hände immer noch auf dem Rücken. Sie sah ihn nur an, und plötzlich spürte er kalten Schweiß auf der Stirn. Ihre Augen waren sehr dunkel – mitternachtsblau. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass diese Augen den Tod gesehen, vielleicht schon oft gesehen hatten. Sie besaßen die Erfahrung eines Lebens, und auf einmal fühlte er sich wie ein Kind. Unter ihrem kalten, zerstörenden Blick dämmerte ihm eine furchtbare Erkenntnis … dass er sich noch nie in einer solchen Situation befunden hatte. Noch nie.
Er hatte zehnmal als El Mico gemordet. Jahrelang hatte er alle Arten des Tötens geübt und war ein Meister seines Faches. Aber El Mico hatte immer unter dem Mantel der Anonymität zugeschlagen – wann er wollte und wie er wollte. El Mico hatte nie um sein Leben gekämpft, war nie in Schwierigkeiten geraten oder im Nachteil gewesen, hatte nie einem ebenbürtigen Gegner gegenübergestanden, geschweige denn einem Todfeind. Die Alternative, zu töten oder getötet zu werden, war ihm fremd. Anders als das Mädchen mit der schrecklichen schwarzen Flamme in den Augen, das vor ihm stand und all das bereits kannte, befand er sich in einer völlig neuen Situation.
Jetzt verstand er auch, wie es seinem Bruder ergangen war. Jetzt wusste er, dass auch Jeremy in ihre Augen geschaut und erkannt hatte, dass dieses Opfer anders war als alle vorangegangenen – als jene Männer und Frauen, die für El Mico nur Material darstellten, um die Kunst des Tötens zu praktizieren. Jetzt war alles völlig anders. Dominic fühlte, dass er zum ersten Mal der Realität einer tödlichen Gefahr ausgesetzt war. Und es war eine schreckliche Realität. Für ihn war es das erste Mal, für sie nicht.
Er kämpfte um Beherrschung, um Gleichgewicht, um Konzentration.
Ruhig … nur ruhig jetzt. Du bist stärker, schwerer, ebenso schnell. Du hast alle Vorteile. Ein Schlag macht sie kaputt. Sie darf nicht die Initiative ergreifen.
Geh ihr entgegen und greif an. Greif immer wieder an. Aber überleg. Was macht sie hinter dem Rücken mit diesem Hemd?
Denk dran, aber lass dich nicht ablenken. Jetzt … rasch, aber vorsichtig … LOS.
Er war erstaunlich wendig auf den Beinen und lief rasch, aber sie entwich, entwich nach hinten und war schneller als er. Sein Magen krampfte sich zusammen.
Niemand konnte sich so rasch zurückziehen …!
Denk nicht nach, du Narr. Mach weiter, aber vorsichtig. Dräng sie gegen die Wand, und dann …
Er kam näher. Wieder wandte sie jene seltsame Technik des unglaublich raschen Rückzugs an. Aber diesmal blieb sie unvermittelt stehen und zog das Hemd hervor; es war zu einem festen kleinen Ball zusammengeknüpft. Ihr Blick hielt seinen fest, als sie den Ball vor sich fallen ließ. Er ließ sich nicht verleiten, dem Ball mit den Augen zu folgen, sondern ging mit neu erwachter Zuversicht auf sie zu. Sie hatte versucht, ihn abzulenken, und es war misslungen.
Und jetzt ein Schlag, ein knochenzerschmetternder Schlag, das ist alles …
Etwas flog durch die Luft und berührte sein Gesicht.
In der halben Sekunde, in der er nichts sehen konnte, wusste er, dass sie das zusammengeknüllte Hemd hochgeschlagen hatte, als es zu Boden fiel. Der Schlag war harmlos, aber er konnte sie sekundenlang nicht sehen, und jetzt verspürte er einen stechenden Schmerz in seinem Bein. Sie hatte sich ihm, die Füße voraus, entgegengeworfen und einen Fuß um sein rechtes Fußgelenk gelegt, während ihre andere Ferse gegen seine Kniekehle schlug – alles in einer einzigen fließenden Bewegung.
Er fiel zur Seite, und im selben Moment stand Modesty wieder auf den Beinen. Ein harter Schlag auf den Ellbogen lähmte seinen linken Arm. Er machte eine Rolle und versuchte mit der Rechten auszuholen. Sie sprang mit beiden Knien auf seinen Arm und lähmte die Muskeln, die so gern ihre Knochen gebrochen hätten. Dann packte sie mit beiden Händen sein Handgelenk, stand, einen Fuß auf seiner Brust, auf, beugte sich über ihn, ließ sich zurückfallen, riss seinen Arm und ein Bein hoch, sodass er in einem Bogen, einen Purzelbaum schlagend, über sie flog.
Er versuchte einen Selbstfaller, aber sie riss an seinem Arm, um sein Gleichgewicht zu stören, und er fiel schwer auf den Rücken, während sein Atem explosionsartig aus der Lunge kam. Sie machte eine Rolle rückwärts und kehrte, immer noch sein Handgelenk haltend, in ihre
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