Modesty Blaise 11: Die Lady spannt den Bogen
undurchführbar würde. Fast fünf Minuten waren verstrichen, als sie einen Mann von einer Kajütentreppe herbeirennen sah, der denjenigen anrief, der Siegfried hieß. Sie nahm Aufstellung, spannte die Sehne und ließ den Pfeil davonschnellen. Siegfried taumelte einen Schritt zur Seite und ging zu Boden. Jede Bewegung erstarrte, und es entstand eine völlige Stille. Mit ihrem nächsten Pfeil traf sie den Mann, der von der Treppe gekommen war.
Er blieb reglos liegen, und sie legte einen neuen Pfeil vor die Sehne, wartete jedoch ab.
Es war ein wunderschöner Bogen, und die Pfeile waren wie geschaffen dafür, mit versteiften Schäften, um höhere Reichweite und Zielgenauigkeit zu erreichen. Als Vollprofis hatten sich die
Watchmen
sofort aus der Zone um die Gangway entfernt und waren in Deckung gegangen. Die beiden, die sie getroffen hatte, lagen noch da. St. Maurs Stimme klang vom Mutterschiff herüber, scharf und durchdringend: »Warum geht es da oben denn nicht weiter?«
Mehrere Männer wollten schon antworten, wurden jedoch von einem gebieterischen Ruf zum Schweigen gebracht. Dann berichtete eine einzelne Stimme in stark akzentuiertem Englisch: »Großes Problem, Major! Jemand schießen mit Pfeilen. Wie mit Langbogen. Hauptmann von Krankin und noch ein Mann sind am Boden. Wahrscheinlich beide tot.«
Nach zwei Sekunden des Schweigens war die Stimme des Majors wieder zu hören, kalt und bestimmt.
»Blaise und Garvin müssen ausgebrochen sein. Macht die Deckslaternen aus. Löscht überhaupt
alle
Lichter!«
Sie nickte verbittert, als sie seinen Plan erkannte. St. Maur hatte Nerven aus Stahl und konnte sehr schnell denken. Sie hatte gehofft, ihn auf die Gangway hinausrennen zu sehen, um ihn dort abzuschießen, aber das hatte er vorausgesehen. Die Männer auf dem Bohrschiff wußten nicht, aus welcher Richtung die Pfeile gekommen waren, deshalb hatte sie einige noch in ihrem Schußfeld, die sich vor einem Schott oder hinter einer Ecke der Bohrturmplattform niederkauerten. Sie konnte noch drei weitere Pfeile abschicken, mit denen sie zwei
Watchmen
bestimmt traf, bevor dann die Lichter ausgingen.
Sie warf sich den Riemen der Maschinenpistole über die Schulter und trat mit einem eingelegten Pfeil an die Reling vor, weil sie hoffte, von dort einen Blick auf St. Maur auf dem Deck unter ihr zu erhaschen, aber auch auf dem anderen Schiff hatte man alle Lichter gelöscht.
Es herrschte eine gespenstische Stille, und sie nahm an, daß ihre Gegner sich über Kehlkopfmikrofone und Ohrhörer miteinander verständigten.
Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte sie den weiten Bogen der Gangway unter sich. St. Maur würde wohl einige Leute zurück auf das Bohrschiff schicken, um sich mit ihr zu befassen –
nein
! Sie wurde von Entsetzen gepackt, als sie bemerkte, daß immer noch Männer über die Gangway
hinunter
liefen, und im selben Moment begriff sie. Es war St. Maurs Hauptziel, das Mutterschiff fertig zu beladen und abzulegen, damit Unternehmen
Morgenstern
nicht gefährdet war. Von diesem Plan ließ er sich durch zwei Feinde, die auf dem Bohrschiff frei herumliefen, nicht ablenken. Mit ihnen könnten sich die verbleibende Besatzung und die Reservetruppen später befassen.
Sie lehnte sich über die Reling. Das Visieren war in dieser Stellung etwas mühsam, aber die Entfernung nur kurz, und sie traf einen Mann am oberen Ende der Gangway, der beim Fallen Verwirrung unter den direkt vor ihm Gehenden stiftete. Als sie gerade den nächsten Pfeil abschoß, wurde ein starker Scheinwerfer auf dem Vorderdeck des Mutterschiffes eingeschaltet, dessen Lichtkegel sofort die Reling absuchte und ihren Standort gefunden hatte, bevor sie sich ducken konnte. Sie sprang rasch einen Schritt zur Seite und ließ sich aufs Deck fallen, denn im selben Moment knatterten zwei Maschinenpistolen, deren Kugeln über ihrem Kopf vorbeipfiffen, teilweise von der Reling abprallten und zu Querschlägern wurden.
Der Scheinwerfer fuhr hin und her, dann kam noch ein zweiter hinzu, so daß die Reling zu einer tödlichen Falle wurde. Sie ließ Bogen und Köcher am Boden liegen, rannte tief vornübergebeugt über das Deck, kletterte über eine Leiter zum leeren Hubschrauberlandeplatz hinauf und lief zurück auf die Steuerbordseite.
Nun war sie oberhalb der wandernden Lichtkegel.
Wenn sie sich bäuchlings auf den Rand der Landeplattform legte, hatte sie freie Sicht auf die Gangway und das Mutterschiff, auf dessen Deck geschäftige
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