Modesty Blaise 11: Die Lady spannt den Bogen
du Hure! Aber
ganz
langsam!« sagte Oberon. Sie hatte noch nie erlebt, daß jemand in nur sechs Worte derartig viel Haß legen konnte.
Einen scheinbar ewig währenden Augenblick lang mußte sie einen heftigen inneren Kampf gegen den Schock, die Angst und die Panik ausfechten, aber schon während sie ihre Überraschung unter Kontrolle brachte, beurteilte sie mit einem Teil ihres Verstandes die neu entstandene Situation. Das Motorboot fiel ihr ein, das sich von den beiden sinkenden Schiffen entfernt hatte. St. Maur und Oberon also … ja, wenn überhaupt irgend jemand aus diesem Chaos hatte fliehen können, dann waren das wohl die wahrscheinlichsten Kandidaten. Und sie wußte auch, daß keiner der beiden bluffte.
Beim ersten Anzeichen einer falschen Bewegung würde sie von Kugeln durchsiebt werden. Sie wunderte sich, daß das nicht schon längst geschehen war.
Sie brachte das Paddel mit beiden Händen über ihren Kopf, hielt die Augen in dem blendenden Scheinwerferlicht halb geschlossen und spürte, wie der Bug des Kanus sanft gegen die Segeljacht stieß. Als sich ihre Pupillen an die Helligkeit angepaßt hatten, sah sie einen Enterhaken, der das Dollbord packte und das Kanu längsseits heranzog. Der Scheinwerfer ging aus, und statt dessen wurde die Decksbeleuchtung eingeschaltet.
Von oben blickte Earl St. Maur auf sie herab, in der einen Hand eine Sterling-MP mit eingeklappter Schulterstütze, die genau auf sie zielte, in der anderen den Enterhaken. Im nächsten Moment stand Oberon neben ihm und richtete den Colt Commander auf sie, den sie vor vielen Stunden schon in der Krankenstation des Bohrschiffs in seiner Hand gesehen hatte.
»Wo ist Garvin?« fragte St. Maur.
Ohne jeden Ausdruck im Blick sah sie gleichgültig zu ihm auf und sagte mit tonloser, müder Stimme: »Ich habe ihn nicht mehr finden können.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Genau das. Wir haben uns getrennt, und als die beiden Schiffe gesunken sind, bin ich zu einem Treffpunkt geschwommen, den wir verabredet hatten. Er war aber nicht dort. Etwas später habe ich dann dieses Kanu hier gefunden und nach ihm gesucht. Aber ich konnte ihn nicht finden. Irgendwie hatte ich gehofft, er hätte es vielleicht bis hierher geschafft.«
Sie wußten es nicht
. Das Kanu war in einem leicht schrägen Winkel an die Jacht herangekommen, als der Scheinwerfer anging, und dann hatten sie ihr Augenmerk hauptsächlich auf sie selbst gerichtet, während es längsseits herankam. Keiner von beiden hatte Willie gesehen, der zusammengerollt zu ihren Füßen lag, weil ihre Bluse seinen Körper von der Taille an bis über das halbe Gesicht verdeckte. Jetzt brannten nur noch die Deckslaternen, so daß das Kanu im Schatten der Schiffswand lag.
Und sie wußten es immer noch nicht.
»Drehen Sie sich um, so daß Sie das Paddel langsam vor mir auf das Deck legen können«, befahl St. Maur.
»Gut. Jetzt lassen Sie es los und spreizen Sie die Handflächen auf den Planken. Keine raschen Bewegungen, bitte. Gut. Jetzt kriechen Sie an Bord. Bleiben Sie dabei aber auf den Knien hocken.«
Sie gehorchte. Ihre Star-Automatic steckte noch immer in dem Halfter unter ihrer linken Brust, und St. Maur mußte sie deutlich gesehen haben. Während sie sich nun auf das Deck heraufzog, traten die beiden Männer auseinander, so daß sie sie von beiden Seiten her in Schach halten konnten. Sie fragte sich, warum sie noch nichts getan hatten, um ihr die Waffe abzunehmen, oder ihr befohlen hatten, sie auf den Boden zu legen, und dafür konnte es nur eine einzige Antwort geben: Was in den vergangenen Stunden geschehen war, mußte ihnen einen derartigen Respekt vor ihr eingeflößt haben, daß sie nun mit ihr umgingen, als wäre sie radioaktiv. Todbringend bei jeder Berührung.
Nicht in ihre Reichweite kommen, und ihre Hände nicht einmal in die Nähe der Pistole gelangen lassen, das war nun die Taktik. St. Maurs Taktik jedenfalls.
»Kriechen Sie vorwärts«, befahl er. »Drehen Sie sich zu uns um. Und jetzt bleiben Sie auf den Knien, aber richten Sie sich auf. Die Hände bleiben auf dem Kopf. Ganz langsam.«
Wieder führte sie die Anweisungen widerspruchslos aus. Die beiden trugen die Kampfanzüge der
Watchmen
, aber ohne die Gesichtsmasken. Ihre Kleider waren ebenso naß wie die ihren. Sie standen zwei Schritt voneinander entfernt mit dem Rücken zur Reling und zielten mit dem Revolver und der Maschinenpistole auf sie. Willie Garvin hatte sich in dem Überraschungsmoment vorhin nicht
Weitere Kostenlose Bücher