Modesty Blaise 12: Die Lady läßt es blitzen
Geschwindigkeit, die die zusehenden Kampfexperten nicht fassen konnten. Als Willie Garvin dieses Geräusch vom Balkon zu beiden Seiten des Hofes hörte, wußte er, was geschehen war. Modesty hatte diese einzigartige Begabung, die es ihr möglich machte, sich völlig kontrolliert rückwärts fortzubewegen, schneller, als die meisten Menschen vorwärtskamen. Das hatte sie sich in ihrer Kindheit auf den Wanderungen durch den Mittleren Osten und Nordafrika als Überlebenstaktik angeeignet.
Auf dem Hauptbalkon rief Miss Johnson aus: »Heiliger Strohsack! Seht euch das an!«
Zwei Sekunden waren vergangen. Das dunkelhaarige Mädchen bewegte sich auf einer Seite des Hofes in großen, weitausholenden Schritten rückwärts, wandte niemals ihren Blick von dem blonden Mädchen, das sie verfolgte, und wich trotzdem den auf dem Weg verstreuten Hindernissen wie Brustharnisch, Helm, Sandalen oder Schulterschutz auf Zentimeter genau aus. Sibyl Pray hatte ihr Netz weggeworfen, hielt den Dreizack beim Laufen in beiden Händen und machte einen leichten Bogen um ihre nun unbewaffnete Gegnerin in eine Ecke des Hofes zu treiben.
Vier Sekunden waren vergangen. Sibyl blieb mit dem Fuß an einem herumliegenden Helm hängen und stolperte beinahe unmerklich. In diesem Augenblick blieb Modesty, wie von einer unsichtbaren Wand aufgehalten, stehen. Sibyl Pray setzte zum Stoß an. Als sie alle Kraft und Perfektion in den weit ausholenden Todesstoß legte, glitzerte die Sonne auf ihrem herrlich muskulösen Körper, der eine Linie, ausgehend vom zurückgesetzten Fuß über das Bein, die Hüften, den Oberkörper zu den Schultern, Armen, Händen und schließlich zum Schaft des Dreizacks bis zu seinen drei tödlichen Spitzen bildete. Sie war eine Spur aus dem Gleichgewicht geraten, aber das hatte sie nur um wenige Tausendstelsekunden gebremst.
Wenige Tausendstelsekunden waren genug. Modesty bog sich wie Gummi; als hätte sie keine Knochen, so daß die innerste Zacke von Sibyls Waffe sie um Fingerbreit verfehlte und in Hüfthöhe an ihr vorüberglitt. Ihr Arm klemmte den Schaft knapp hinter den Zacken unter die Achselhöhle ein, während sie ihn schon mit den Händen weiter oben ergriff, und der Bewegungsfluß ihres Körpers schien ohne Unterbrechung den Stoß ihrer Gegnerin fortzusetzen, ausgehend vom Arm, der den Dreizack festhielt und eine sanfte Biegung beschrieb, die sich über die Schulter und den Körper fortpflanzte und das Bein hinunterglitt, worauf der nackte Fuß in einer Kurve nach oben schnellte – rasch ineinander übergehende Bewegung, die ihren Höhepunkt erreichten, als der beinharte Zehenballen auf Sibyls Hals genau hinter dem Kiefergelenk prallte.
Der Fuß hatte nie in Schuhen gesteckt, bis Modesty ein Teenager war, und sogar jetzt noch wanderte sie oft kilometerweit barfuß querfeldein. Der genau kalkulierte Schlag mit diesem Fuß, verstärkt durch einen wilden Kiya-Schrei, der im Augenblick des Aufpralls aus ihren Lungen drang, hatte die Wirkung einer langstieligen Keule, und Sibyl Pray war tot, bevor ihr plötzlich schlaffer Körper noch zu Boden gefallen war. Willie Garvin hörte den Schrei und senkte Schild und Schwert. Als Kazim ihn dann erstaunt ansah, aber nicht wagte sich umzudrehen, sagte Willie: »Das ist für Molly Chen.« Sein rechter Arm schien zu flattern. Kazim hatte keine Zeit gehabt, sich zu bücken oder auszuweichen, nicht einmal, zu registrieren, was geschah, als das kurze, breite Schwert bereits in einem ansteigenden Flug über die sechs oder sieben Meter zwischen den beiden Männern hinweggefegt war und ihm unter dem Brustbein ins Herz drang. Dreizack und Netz fielen aus seinen nun kraftlosen Händen, und ein wortloses Geräusch drang aus seinem Mund, als er seitwärts niederstürzte.
Willie drehte sich um, ließ den Schild von seinem linken Arm gleiten und beobachtete den Hauptbalkon, während er langsam darauf zuging, um Modesty zu treffen. Dort oben herrschte völlige Stille. Willie wog den Schild in den Händen, wie er es in der Zelle getan hatte, befühlte Art und Qualität und richtete die Augen dann wieder auf den Balkon. Hinter ihm gingen unsicher die drei Wachen, die am Ende des Hofes postiert gewesen waren, und hielten die MPs schußbereit.
Modesty kam lächelnd auf ihn zu und strich sich eine Haarlocke aus dem Gesicht. Wahrscheinlich bemerkte nur Willie, wie gequält dieses Lächeln war und welche Anspannung tief in ihren Augen lag. Beinahe unhörbar fragte er: »Kann ich Tyl töten?
Jetzt?
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