Modesty Blaise 12: Die Lady läßt es blitzen
Modesty Blaise getötet wurde. Trotz Gedächtnisschwundes ist ihr Name von größter Bedeutung für ihn, und er ist tiefunglücklich.« Sie sah von ihren Notizen auf. »Nicht nur unglücklich, sondern extrem rachsüchtig, was Dr. Tyl in Hinblick auf beabsichtigtes Szenarium mit größter Befriedigung erfüllt.«
»Es ist immer eine Freude für mich, ja, ich bin sicher, für alle von uns, zu wissen, daß Dr. Tyl bei seiner Arbeit glücklich ist. Darf ich fragen, ob Sie wissen, wie Mr. Garvin die momentane Lage … äh, sollen wir sagen,
begreift?
«
Die Hindu sah bewundernd zu, wie Dr. Pilgrim das letzte Stück seines Omelettes auf die Gabel spießte und in den Mund steckte. »Nur Dr. Tyl kann gültige Erklärung über mentalen Zustand seines Patienten abgeben.«
»Nein, nein, liebe Dame.« Thaddeus Pilgrim hob protestierend die Arme. »Ich bin ein einfacher Mann, den technische Einzelheiten rasch verwirren. Ihre eigene Wiedergabe ist dem ärztlichen Bericht bei weitem vorzuziehen.« Er faltete die Hände und strahlte sie erwartungsvoll an.
Sie senkte verwirrt die Augen und wünschte, daß es ihm in irgendeiner Weise möglich wäre, sie ebenso zu verzehren, wie er das Omelett verzehrt hatte, und dachte daran, wie freudvoll sie sich für die Witwenverbrennung geopfert hätte, wäre sie nur sein gewesen und wären die alten Bräuche nicht schon längst ausgerottet worden. »Nun … soweit ich verstanden habe, wurde bezüglich Mr. Garvins derzeitiger Lage die Vergangenheit als Basis genommen. Er glaubt, daß das Netz noch existiert. Er glaubt, diese Insel sei das jetzige Hauptquartier und wir alle seien Mitglieder des Netzes.
Es ist ein etwas
unklares
Konzept, meint Dr. Tyl, aber so real, wie ein Träumer seinen Traum empfindet, und es ist wiederum mit Mr. Garvins Unterbewußtsein in Einklang.«
Dr. Pilgrim trank etwas Milch und begann, von einem Teller Rosinen zu naschen. »Ich bin brennend daran interessiert, wie Dr. Tyl nun fortzufahren beabsichtigt«, sagte er. »Nicht, daß ich daran denken würde, mich in sein Spezialgebiet einmischen zu wollen, Mrs. Ram. Ich bin einfach … brennend interessiert.«
»Ich bin mir über diesen Punkt selbst nicht ganz im klaren, Dr. Pilgrim. Er hat gewisses fotografisches Material angefordert, das heute morgen aus England angekommen ist. Er spricht davon, Mr. Garvins Gehirn als … Palimpsest zu verwenden, aber ich muß zugeben, daß mir dieser Ausdruck nicht geläufig ist.«
»Palimpsest …« Thaddeus Pilgrim wiederholte das Wort, wobei er die einzelnen Silben betonte. »Ohne pedantisch sein zu wollen – und ich verwende das Wort pedantisch in seiner wahren Bedeutung, nämlich um die ostentative Zurschaustellung von Wissen zu beschreiben –, bin ich sicher, daß ein Palimpsest ein Material, wie etwa ein Stück Papier oder Pergament ist, auf dem die ursprüngliche Schrift ausgelöscht und durch eine
andere
Schrift ersetzt wurde. Würde eine solche Definition Ihnen für das Verständnis von Dr. Tyls Absichten weiterhelfen?«
Ihr Entzücken war beinahe orgiastisch. »Natürlich, Doktor, natürlich! Ich verstehe nun, daß er vorhat, Mr. Garvins mentales Bild von Modesty Blaise auszulöschen und durch ein anderes Bild zu ersetzen. Dann kann er das Originalbild weiter für den in Ihrem Szenarium beabsichtigten Zweck einsetzen.«
»Ach … faszinierend, faszinierend«, erwiderte Thaddeus Pilgrim, schloß die Augen und gab sich seinen Betrachtungen hin. Bizarre Bilder tanzten vor seinem geistigen Auge. Seit einiger Zeit wußte er, daß die Schwarze Magie, die er ausgeübt hatte, um die natürlichen menschlichen Empfindungen abzutöten, eine nachhaltige Wirkung auf ihn hatte. Er war nun gewissermaßen sämtlicher verstandesmäßig erfaßbarer Motivationen beraubt, und seine Entscheidungen wurden in zunehmendem Maße auf keiner rationalen Grundlage mehr getroffen, sondern schienen aufs Geratewohl einem Teil seines Gehirns zu entspringen, der von seinem Bewußtsein abgelöst war. Wäre er nicht auch allen Glaubens beraubt gewesen, hätte er meinen können, eine fremde Macht habe von ihm Besitz ergriffen. So, wie die Sache stand, nahm er einfach nur an, daß er langsam an den Rand dessen trieb, was man im allgemeinen als Wahnsinn bezeichnete. Aber da ein solcher Terminus für ihn keine Bedeutung hatte, konnte ihn der Begriff nicht erschrecken.
»Ein außergewöhnlich interessantes Szenarium, wie ich hoffe«, sagte er und öffnete die Augen. »Nun geht es um eine
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