Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol: Kreuzberger Szenen (German Edition)
Behinderten, der wahrscheinlich als unwertes Leben abgeschafft worden wäre. Doch doch, je länger ich darüber nachdenke, gar nicht schlecht, der Witz. Aber darüber lachen kann ich auch nicht. Dafür hab ich zu lange drüber nachgedacht.
1. Mai
Der 1. Mai in Berlin ist auch nicht mehr, was er mal war. In der BamS ist er sogar auf Seite 8 abgerutscht. Auf Seite 1 macht sich die BamS Sorgen um das ganze schöne Geld, das gerade in Griechenland versickert. Der Chefredakteur der Welt Thomas Schmid bedauert es, dass hinter den Krawallen keine Vision mehr steckt, sondern nur »die Lust am Krawall um des Krawalls willen«. Schmid muss es wissen, denn er war früher Chefideologe des »Revolutionären Kampfes« in Frankfurt, wo er die Vision hatte, bei Opel malochen zu müssen, um den Arbeiter zu überreden, eine Revolution zu machen und den Kapitalismus abzuschaffen.
Ich komme gerade aus der Trinkerkneipe »Intertank«, wo man verächtlich belächelt wird, wenn man etwas anderes bestellt als Alkohol. Aber ich muss einen klaren Kopf behalten, denn ich bin in einer schwierigen 1. Mai-Mission unterwegs. Ich skandiere die nicht ganz einfache Parole »Krise ve Irkcılıgı karsı«, gegen Krise und Rassismus. Puh, vier stimmlose i. Ich habe das auf einem Plakat gelesen und so oft vor mich hingesagt, dass ich schon nach kurzer Zeit nicht mehr weiß, ob das tatsächlich so heißt, auf jeden Fall so ähnlich. Zur Sicherheit frage ich meinen multilingualen Bruder. Man will den Leuten ja auch keinen Scheiß erzählen.
Karsı heißt gegen, d.h. erst am Ende wird verraten, ob man dafür oder dagegen ist, weshalb der Türke immer bis zum Ende gespannt lauschen muss, bevor der andere dann eine aufs Maul bekommt, während im Deutschen das Bekenntnis gleich am Anfang steht. Nach den ersten beiden Worten winkt der Deutsche also schon meistens müde ab und denkt sich »und gegen Rassismus wahrscheinlich auch. Mannmannmann, das weiß ich doch schon lange.« Er hört dann gar nicht mehr hin. Wenn dann doch was anderes kommt als Rassismus, kriegt der Deutsche das gar nicht mehr mit, weil er schon abgeschaltet hat.
Jedenfalls skandiere ich auf der Oranienstraße und auf dem Kotti »Krise ve Irkcılıgı karsı«, um zu sehen, ob der türkische Mitbürger das gut findet, aber keiner reagiert, keiner wirft mir böse Blicke zu oder lobt mich wegen meines Engagements. Niemand scheint es zu interessieren, dass ich »Gegen Krise und Rassismus« bin. Das wundert mich nun doch ein wenig. Nur Miss Trixie findet es lustig und lacht, was in mir langsam die Überzeugung heranreifen lässt, dass dieses Bekenntnis auf türkisch möglicherweise ein bisschen lächerlich klingt.
Auf diese Weise skandierend kommen wir an den Rand der 1. Mai-Demo. Auf der Kottbusser Brücke steht ein Robben & Wientjes-Kleinlaster, an dem Transparente mit der Aufschrift »Kapitalismus abschaffen« angebracht sind. Ob das Robben & Wientjes weiß? Er ist von Polizisten umringt, Zwei-Meter-Männern, die mit ihrer panzerhaften Ausrüstung aussehen, als wären sie einem Video-Ballerspiel entsprungen und würden gleich explodieren. Sie entrollen andere Riesentransparente, die im Laster lagern, um zu kontrollieren, dass nichts Schlimmes draufsteht, aber es steht überall nur drauf, dass die Krise und der Kapitalismus weg sollen, und der Rassismus auch.
Neben ihnen steht Inge Viett und redet auf die Bullen mütterlich ein. Wahrscheinlich sagt sie »Jungs, macht doch jetzt keinen Scheiß, es ist alles okay.« Und wenn die Jungs wüssten, wer Inge Viett ist, würden sie sich vielleicht ein bisschen mehr am Riemen reißen, denn schließlich hat sie mal einen von ihnen fast erschossen. Das war zwar in Paris, und der Bulle ein Franzose, und das ist ja ein bisschen was anderes bzw. auch weit weg, aber trotzdem. Genau weiß ich das nicht mehr, ist ja auch schon lange her. Schade, dass Thomas Schmid nicht da ist, der wüsste das. Schade auch, dass er die große Menge an Visionen auf schweren Stoffbahnen nicht mitkriegt, die so altbacken sind wie zu den Zeiten von Thomas Schmid und Inge Viett.
Ich überlege, was dem klobigen Kurzhaargrünen oder der Pferdeschwanzpolizistin wohl durch den Kopf geht bei ihrer Arbeit. Halten sie ihre Tätigkeit für sinnvoll? Glauben sie, das System vor »den Chaoten« schützen zu können? Fühlen sie sich wichtig?
Überall stehen Leute herum und gucken zu. Viele machen Erinnerungsfotos. Wieder wird ein Transparent entrollt, wieder steht drauf, dass die
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