Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol: Kreuzberger Szenen (German Edition)
Krise weg muss. Der große grüne Polizist sieht ausdruckslos auf das große Tuch. Er sieht nicht die Liebe und die große Mühe, die das Transparent den Müttern der Demonstranten gekostet hat, oder Inge Viett.
Ein Kollege macht sich Notizen. Wahrscheinlich für seine späteren Memoiren. Nein, doch nicht, denn er gibt die Parolen per Funk an den Chefideologen der Polizei durch, denn es ist ihm zu heikel, eine womöglich demokratiegefährdende Parole durchgehen zu lassen. Der Chefideologe heißt Thomas Schmid. Er weiß genau, dass es nicht sinnvoll ist, den Kapitalismus abzuschaffen, weil er auf einem wichtigen Chefredakteursposten für ihn arbeitet. Aber das phantasiere ich mir natürlich nur in meinem kranken Gehirn zusammen.
Hinter Robben & Wientjes steht ein Schwertransporter. Er ist mit so vielen Boxen bestückt, dass die Achsen ächzen. Aber das hört man nicht, weil es aus den Boxen wummert, dass das Straßenpflaster bröckelt. Um den Schwertransporter ist ein dünnes Seil gespannt, das von jungen und ganz in schwarz gekleideten Menschen gehalten wird. Sie sehen ein wenig wie Sargträger aus, aber dafür ist ihre Garderobe zu nachlässig. Die meisten tragen dunkle Sonnenbrillen. Die Polizisten auch, dabei scheint gar keine Sonne, aber das ist egal, denn die Sonnenbrillen sind von innen verspiegelt. Ich weiß das aus sicherer Quelle.
Am Ende des Lasters steht ein ganz junger Mensch. Er hält sehr gewissenhaft das Seil, hat rotgrüne Haare und ungefähr zwei Pfund Metall im Gesicht. Er verzieht keine Miene. Mit dem Metall geht das vielleicht auch gar nicht. Einer seiner Kollegen stöpselt sich Ohrenstöpsel in die Ohren. Andere trinken Bier aus Dosen und schreien sich gegenseitig was ins Ohr, aber zu hören ist nur Technogewummere aus tausenden von Lautsprechern. Ich frage mich, weshalb Punks sich sowas anhören, kann aber niemanden fragen, weil es so laut ist. Wahrscheinlich wissen sie es selbst nicht, oder es handelt sich um eine ausgetüftelte Strategie, um die Polizei mürbe zu machen.
Einer der Punks trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift »Mile High Club«, das womöglich auch zur Verwirrung beiträgt, wenn die Polizisten nicht schon mit der Frage überfordert wären, ob den »Kapitalismus abschaffen« staatsfeindlich ist oder nicht. Für den Fall, dass Sie es auch nicht wissen (nicht, ob die Abschaffung des Kapitalismus staatsfeindlich ist, sondern was »Mile High Club« heißt), gibt es ja Gottseidank mich, der Ihnen das erklären kann: Dem »Mile High Club« gehören diejenigen an, die in 8000 Metern Höhe schon mal Sex hatten. Ich glaube nicht, dass der wie 16 aussehende Punk das schon mal hatte, geschweige denn so hoch oben, aber vielleicht strebt er dieses Ziel an. Vielleicht hält er das T-Shirt ja deshalb für subversiv, weil Geschlechtsverkehr in Flugzeugen verboten und die Freiheit über den Wolken grenzenlos ist, jedenfalls im Vergleich zum irdischen Elend.
Das Ganze verwirrt mich und ich glaube nicht, dass jemand all die Zeichen noch deuten kann, die sich hier in dem Mikrokosmos austoben. Es kommt mir vor wie ein absurdes Theaterstück, bei dem die Inszenierung aus dem Ruder gelaufen ist, denn jeder spielt einfach vor sich hin, es gibt keine Dramaturgie und keine Regieanweisungen. Aber vielleicht irre ich mich auch. Vielleicht bin ich selber nur Teil einer großen Inszenierung, bei der es um die Erhaltung des 1. Mai als Krawalltag für krawallbereite Chaoten geht, um die Krawalltouristen anzulocken. Auch sie kurbeln schließlich die Wirtschaft und den Konsum an, denn überall auf den Straßen in Kreuzberg sprießen Verkaufsstände wie Pilze aus dem Boden, die Geschäfte laufen an diesem Tag glänzend, während woanders sich gar nichts tut, weil die Läden wegen Feiertag geschlossen sind. Berlin hat da einen Wettbewerbsvorteil, auf den die chronische Pleitestadt nicht so einfach verzichten kann.
Und auch die Polizei kann hier unter richtigen Bedingungen üben und richtigen Chaoten richtig auf den Kopf hauen und sie verhaften. Diese Ausbildung mit Nahkampferfahrung kriegt man ja sonst nur in Afghanistan und dort ist man womöglich gleich tot, was einem in Kreuzberg nicht passiert. Außerdem werben alle Medien mit großen Berichten über das Spektakel, und wie jeder PR-Mann weiß: Jede Presse ist eine gute Presse. Wenn also Thomas Schmid »die Krawalle um der Krawalle willen« verurteilt, dann will er in Wirklichkeit, dass mal wieder was passiert, denn in den letzten Jahren wurde es
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