Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol: Kreuzberger Szenen (German Edition)
Sich-Hinziehen, obwohl alle Referenten auf der Bühne herumlümmeln und alle Plätze besetzt sind, ist eine Art Ritual für eine Veranstaltung, in der es um die Bedeutung von Marx für die heutige Zeit geht. Und so ein bedeutendes Thema kann man nicht mal so hopplahopp über die Bühne bringen. Das dauert. Das muss so sein.
Vielleicht aber muss bloß mal jemand ein Signal geben, denke ich. Bei Rockkonzerten fangen die Leute an zu pfeifen, wenn sich die Musiker zu viel Zeit lassen. Also pfeife ich mal. Komischerweise funktioniert es. Der Gesprächspegel ebbt plötzlich ab, der Moderator begibt sich zum Mikrophon und kündigt Etiènne Balibar an.
Etiènne Balibar spricht Englisch. Er liest vom Blatt ab, ohne aufzusehen. Er bewegt sich kaum, nur den Mund. Er spricht schnell und deutlich und sehr lange und ich verstehe fast alle Wörter, aber seine sonore, eintönige Stimme versetzt mich sehr schnell in einen komatösen Zustand. Ich ertappe mich dabei, wie ich die Hinterköpfe der Studenten vor mir studiere, aber ich kann keine These davon ableiten.
Auf dem Uni-Hof machen die in Grüppchen herumstehenden Studenten einen ratlosen Eindruck. Sie scheinen nicht viel verstanden zu haben. Ich bin froh, dass es ihnen auch nicht besser geht als mir, der ich ja schon lange nicht mehr an der Uni bin, weshalb ich da natürlich fein raus bin, und außerdem habe ich auch nicht Balibar, sondern noch Hegel studiert.
Andererseits finde ich es toll, dass es Balibar völlig egal ist, ob ihm jemand folgen kann. Er zieht einfach seinen Stiefel durch. Auch Olaf aus Schweden, der extra zu diesem Kongress angereist ist, hat seine Probleme. Er findet alles zu akademisch und fragt nach einem guten Restaurant. Es muss aber in Mitte sein.
Am Büchertisch stehe ich neben einer Frau, die eine große Haarspange mit Schlaufe im Haar trägt, einen roten BH und ein schwarzes Kleid mit Spitze. Sie zeigt auf ein Buch und sagt: »Hast du das geläsen?« Ihr Begleiter schüttelt den Kopf. »Hast du das geläsen?« Wieder nichts. Sie deutet auf »Der kommende Aufstand« und sagt: »Hast du das geläsen? Alle haben das geläsen.« Stimmt, sogar ich.
Im Türstehermilieu
Vor dem »Bassy« steht ein Türsteher. Er ist dreifacher Zopfträger. Hinten einer und vorne zwei. Die hat sich der Türsteher in den Bart gezwirbelt und mit einem Gummi fixiert. Er könnte auch noch aus seinem Schnurrbart zwei Zöpfe drehen, aber dafür müsste der Schnurrbart erst noch ein wenig wachsen. Er hat ein etwas zu großes schwarzes Jackett an, eine große Gürtelschnalle und Cowboystiefel.
Ich frage ihn, ob er aus dem »Türstehermilieu« komme, von dem ich schon viel gehört habe, aber er sagt nur, dass da »nur Scheiße gelabert« werde, und wenn ich meine Zigarette aufgeraucht hätte, solle ich lieber mal schön reingehen. Da ich selber mal im »Türstehermilieu« gearbeitet habe, wenn auch nur ganz kurz, vielleicht nur zehn Minuten, weiß ich, dass ich die Drohung ernst nehmen muss.
Gerade bugsiert eine Frau, die von der Statur her ebenfalls als Türsteher durchgehen könnte, eine dünne Gestalt wieder zurück ins Freie, weil die ein fremdes Bier in der Hand hält. Sie zählt dem Dreizopftürsteher die Getränkekarte auf, nur ohne Preise, um ihm zu beweisen, dass das, was der Mann gerade an den Hals setzt, nicht aus dem Laden stammt.
Türsteher müssen ganz schön viel wissen. Der Hinausbugsierte sieht ein bisschen aus wie ein Punk, aber nicht wie ein Proll-Punk, sondern eher wie ein Punk, der bei Vivienne Westwood eingekauft hat, aber schon vor dreißig Jahren. Der Türsteher und der Punk verstehen sich auf Anhieb gut und klatschen sich ab. Aber was macht der Punk auf einer Dylan-Geburtstagsfeier, frage ich mich, und warum steht ein Dreizopftürsteher vor der Tür?
Dylan hat 70. Geburtstag. Es sind nicht sehr Viele auf seine Party gekommen, jedenfalls kann ich noch bequem zwischen den Leuten hindurchlaufen, ohne anzustoßen, und vor der Bühne dehnt sich eine leere Fläche wie ein Sperrgebiet mit unsichtbarem Nato-Draht abgesperrt. Viele Künstler aus aller Welt, die es nach Berlin verschlagen hat, weil es hier billig ist, spielen Dylan zu Ehren so gut es geht ein paar Dylan-Songs nach.
Die durch den Abend führende Moderatorin sagt, sie sei Wiglaf Droste. Später sagt sie, sie sei Wiglaf und ihr Mitmoderator Droste, aber sie wirkt dabei nicht sehr glaubwürdig. Da müsste sie noch etwas an ihrem Aussehen arbeiten. Sie trägt schwarze Lederstiefel und Hotpan. Ich
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