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Möhrchenprinz - Roman

Möhrchenprinz - Roman

Titel: Möhrchenprinz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Blick zu, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
    »Du weißt genau, dass ich nie friere«, zischte ich Daniel zu. Er war die Frostbeule in unserer Familie, nicht ich.
    »Willst du dafür arbeiten gehen? Dass du dein ganzes Geld zum Fenster hinaus heizt? Und im Sommer wirst du hier eingehen vor Hitze. Das Dach ist überhaupt nicht gedämmt.«
    »Ich will eine Wohnung im Dachgeschoss und zwar eine bezahlbare.«
    »Sie ist nicht bezahlbar, wenn du an die Nebenkosten denkst.«
    »Außerdem will ich JETZT eine Wohnung.«
    »Um spätestens in einem halben Jahr wieder auszuziehen?«
    Der Kopf der Vermieterin zuckte von rechts nach links, von Daniel zu mir und zurück, während wir uns gegenseitig anzickten. Dann stoppte er abrupt, als habe sie einenKolbenfresser in der Halswirbelsäule. Stattdessen schnellte auf einmal ihre rechte Hand hoch. Daniel und ich starrten sie an.
    »Die Wohnung ist bereits anderweitig vergeben.«
    »Wie bitte?«, stammelte ich.
    »Der Herr, der heute Vormittag hier war, war sehr interessiert. Und er ist …«, sie ließ einen herablassenden Blick an mir herunterrutschen, »… SEHR seriös.«
    »Das bin ich auch«, entgegnete ich mit dem ganzen, kläglichen Rest an Würde, den Daniels Einmischung mir noch gelassen hatte. »Und meinen Bruder hätten Sie nie wieder gesehen.«
    Damit drehte ich mich um und verließ meine Traumwohnung für immer.
    »Hey, sei froh, dass ich dir die Enttäuschung erspart habe!«, rief Daniel hinter mir her.
    Ich hatte das Gehen auf hohen Absätzen inzwischen ganz gut drauf und das Treppen-Hinaufsteigen war überhaupt kein Problem, aber treppab war ich nicht halb so schnell wie gewünscht. Ich konzentrierte mich auf meine Füße und blieb die Antwort schuldig.
    »Die Wohnung ist der reinste Klimakiller. Du kannst genauso gut direkt den winterlichen Nachthimmel heizen.«
    »So wie die Bars und Lounges mit ihren bescheuerten Terrassenstrahlern, in denen du dich herumtreibst!«, rief ich über die Schulter.
    »Genau«, sagte Daniel, »darüber hast du dich doch immer aufgeregt und mich zum Boykott dieser Terrassen aufgefordert. Und jetzt willst du selbst den ganzen Winter über die Heizungsluft zum geöffneten Fenster hinausblasen.«
    »Ich mache nie gleichzeitig das Fenster auf und die Heizung an«, korrigierte ich Daniel.
    »Das würdest du in dieser Wohnung wohl sowieso tun, wenn auch unfreiwillig, weil die Fenster so undicht sind, dass du sie überhaupt nicht richtig schließen kannst.«
    Endlich stand ich wieder auf sicherem Boden und drehte mich zu Daniel um. »Es war ein Fehler, deine Hilfe bei der Wohnungsbesichtigung zu erbitten. Du hast mich erstens vor dieser Frau wie ein kleines Dummchen dastehen lassen und mir außerdem die Chance auf die tollste Wohnung, die überhaupt gerade auf dem Markt ist, versaut. Ich hasse dich.«
    Bei dem letzten Satz, den ich unter Tränen hervorgepresst hatte, stampfte ich mit dem rechten Fuß auf, wie ich es schon seit meinem dritten Lebensjahr tat, wenn Daniel mich zur Weißglut trieb. Der Absatz meiner brandneuen Pumps gab mit einem hässlichen Geräusch nach, mein Knöchel sandte einen stechenden Schmerz nach oben. Natürlich. Wenn der Tag im Eimer war, goss gleich noch jemand Gülle drauf. Ich zog den kaputten Schuh aus und humpelte heulend vor Wut zum nächsten Taxistand. Daniel sah mir mit hängenden Armen nach.
    Der Streit mit Daniel war mir genauso nahegegangen wie die Enttäuschung darüber, dass ich die Wohnung nicht bekommen hatte. Jede Verstimmung zwischen uns machte mich traurig, aber diesmal war ich ihm wirklich böse – und dieses Gefühl bescherte mir natürlich gleichzeitig ein schlechtes Gewissen. Ich war sicher, dass er keine derartige Qual litt. Das schlechte Gewissen hatte in unserer geschwisterlichen Beziehung immer ich.
    Diesmal aber wollte ich nicht klein beigeben und rief ihn nicht an. Da auch er sich nicht meldete, stürzte ich mich mit noch mehr Engagement in meine Arbeit, um auf andere Gedanken zu kommen.
    Mein Job bestand darin, den Marktanteil exotischer Fleischsorten in Deutschland zu vergrößern. Das Marketing richtete sich an zwei Kundengruppen: Die Gastronomie und den Endverbraucher. Die Strategien für die beiden Zielgruppen waren unterschiedlich, aber letzten Endes galt es, in den Köpfen der Gastronomen und der Verbraucher jeweils ein Bild zu erzeugen: Das Bild vom würdevollen, eleganten Wildtier, das ein erfülltes Leben in einer intakten Natur lebte und nach seinem kurzen,

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