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Möhrchenprinz - Roman

Möhrchenprinz - Roman

Titel: Möhrchenprinz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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das nicht der Fall war, aber alle lachten mit. Es gibt Themen, bei denen ganze Dorfgemeinschaften im Glashaus sitzen und sich lieber die Hand abhacken würden, als nach dem Stein zu greifen.
    Ich knuffte meinen Bruder dankbar in die Seite, dann standen wir auch schon vor dem Geburtstagskind.
    Meine Mutter wurde achtundfünfzig und über die Frage,ob man ihr das ansah, konnte man sich trefflich streiten. Sie hatte kaum Falten, war nur ein bisschen zu füllig und wie immer völlig mit sich selbst und ihrer Umwelt im Reinen. Im Gegensatz zu manch anderen Frauen ihres Alters, die von Arbeit, Haushalt, Kindern und Enkeln überfordert oder von Geldsorgen geplagt waren, wirkte sie also deutlich weniger gebeugt. Andererseits war sie in den letzten zwanzig Jahren, in denen sie ausschließlich Hausfrau und Mitglied des Landfrauenverbandes war, ziemlich altbacken geworden. Ihre Kleidung war unmodern und langweilig, ihre Themen reichten kaum über den Garten hinaus und ihre Ausstrahlung war die einer behäbigen Matrone. Das war umso unverständlicher, als sie gelernte Kosmetikerin war, die in jüngeren Jahren die neuesten Trends mit großer Begeisterung ausprobiert hatte.
    Mama strahlte uns an, wir gratulierten mit Küsschen und Umarmungen, dann überreichte ich ihr mein Geschenk.
    »Ein Seidentuch!«, rief sie begeistert aus. Sie nestelte den Schal, den sie trug, vom Hals und legte das Tuch um. Seit sie ein Farbseminar besucht und die Wirkung von farbigen Schals kennengelernt hatte, trug sie ständig entweder ein Tuch oder einen Schal. Da sie außerdem die Farbwahl ihrer Kleidung grundsätzlich auf ihre grün-goldenen Augen abstimmte, wusste ich genau, in welchem Bereich der Skala ein neues Tuch angesiedelt sein musste, und so passte natürlich auch dieses Geschenk gleich perfekt zu ihrer honigfarbenen Bluse und der Baumwollhose in Flaschengrün. Meine Mutter zu beschenken war leicht, aber, wie sie selbst eben auch, etwas langweilig. Hauptsache, sie freute sich.
    »Alles Gute zum Geburtstag«, wiederholte nun auch Daniel und überreichte sein Geschenk. Es hatte das Format eines Bildes und meine Neugier erregt, aber er hatte nur geheimnisvoll gelächelt und gesagt, es sei etwas, womitniemand von uns rechnen würde. Mir war bei dieser Bemerkung ein wenig flau geworden, denn Mama mochte keine Überraschungen. Deshalb wartete ich jetzt genauso gespannt auf ihre Reaktion wie Daniel, der mit vorfreudigem Lächeln auf Mama herunterblickte. Sie schaute argwöhnisch auf das Geschenk. Ihr Kunstgeschmack unterschied sich dramatisch von dem ihres Sohnes.
    Mama zerriss den Einschlag, der aus dunkelgrün gefärbtem Packpapier bestand, und holte den Glasrahmen vorsichtig aus der Umhüllung.
    »Ein Zertifikat?«, murmelte sie, während sie das Papier im Glasrahmen mit gerunzelter Stirn studierte. »Atmos-fair«, entzifferte sie nur mühsam ohne ihre Lesebrille. »Aha.«
    »Solange du noch ein eigenes Auto hast, ist ein Ausgleich für die CO 2 -Belastung das Mindeste, was man zur Klimarettung tun kann«, erläuterte Daniel. »Deshalb habe ich deine Autofahrten für ein ganzes Jahr ausgeglichen. Über Alternativen zum Auto müssten wir uns dann aber bald mal unterhalten.«
    Der Blick meiner Mutter glitt immer noch unsicher über das schön gerahmte Zertifikat, dessen Sinn sie ganz offensichtlich noch nicht verstanden hatte. Sie wollte das Thema aber nun auch nicht vertiefen, denn mit einer entschlossenen Geste stellte sie den Rahmen zur Seite und räusperte sich. »Das ist, äh, sehr schön, mein Großer.«
    Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie sich wieder im Griff hatte und Daniel mit dem üblichen Mutterstolz anstrahlte. »Bei dir muss man ja immer mit einer Überraschung rechnen, das hält jung!«

5
    In der darauf folgenden Woche hielt mit dem April nicht nur endlich ein atlantisches Hoch Einzug in Westdeutschland, sondern ich erhielt mein zweites Monatsgehalt und konnte mir weitere Klamotten leisten. Die Arbeit machte mir Spaß, wenn sie auch noch mit einigen Überstunden verbunden war. Der einzige Wermutstropfen lag darin, dass ich mit PS viel weniger zu tun hatte, als erhofft. Dafür legte ich regelmäßig auf dem Heimweg einen Zwischenstopp in der Pförtnerloge ein, um ein paar Worte mit Josef zu plaudern. Meist saß Tin-Tin um diese Uhrzeit auf einem Hocker in der Ecke und lauschte mit geschlossenen Augen der Musik aus ihren Ohrstöpseln.
    »So eilig, heute?«, fragte Josef am Donnerstag, als ich im Laufschritt in der Halle

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