Möhrchenprinz - Roman
deutlich über der Kilometerleistung lag.
Nun hatte er es also endlich eingesehen und gleich gehandelt. Ich schickte Svenja im Stillen einen Gruß nach Indien. Sie hatte ohne jegliche Diskussion das geschafft, wofür ich mir jahrelang den Mund fusselig geredet hatte.
»Und jetzt?«, fragte ich.
»Fahren wir mit der Bahn.«
Daniel hatte inzwischen offenbar sowohl das Tarifsystem als auch die Fahrpläne des regionalen Verkehrsverbundes auswendig gelernt, denn er konnte die Verbindungen, Fahrtzeiten und Preise fehlerfrei aufsagen. Das musste ich ihm lassen: Wenn er etwas anfing, dann machte er auch gleich Nägel mit Köpfen.
Ich vereinbarte mit unserem Vater, dass er uns am Bahnhof abholte, denn der Bauernhof, den meine Eltern vor dreißig Jahren am Niederrhein gekauft und in Eigenarbeit saniert hatten, lag denkbar ungünstig auf dem platten Land, das nach neunzehn Uhr von den öffentlichen Verkehrsmitteln gemieden wurde.
Ich erschrak beim Anblick unseres Vaters, der auf dem Bahnsteig stand, um uns abzuholen. Er war dünner geworden, blass und stand mit hängenden Schultern da, während er uns noch in der Menge der aussteigenden Fahrgästesuchte. Grau, war das Wort, das mir spontan einfiel. Mein Vater sah grau aus, obwohl sein Haar immer noch voll und dunkel war. Aber seine Ausstrahlung hatte sich verändert, Lebensfreude und Zufriedenheit waren verschwunden.
Er begrüßte mich mit einer sehr langen, sehr festen Umarmung und Daniel mit dem üblichen Schulterklopfen. Er fragte gedankenverloren nach Daniels Auto, reagierte aber kaum auf die Nachricht, dass es verkauft sei. Auch auf der Fahrt vom Bahnhof nach Hause war er auffallend schweigsam, schob es aber, als ich nach dem Grund fragte, auf die Arbeit. Das kam häufiger vor, aber mehr erzählte er darüber nicht, denn er arbeitete als Steuerprüfer für Großunternehmen beim Finanzamt. Diskretion gehörte zu diesem Job wie der Taschenrechner, daher fragte ich nicht weiter nach. Allerdings nahm ich mir vor, seine seltsam stille Verschlossenheit im Auge zu behalten.
Die Feier war bereits in vollem Gange, als wir ankamen. Die üblichen Verdächtigen vom Landfrauenverein saßen um den riesigen Eichentisch herum, die wenigen anwesenden Herren hatten die gemütlichen Sessel belegt. Meine Mutter war in ihrem Element. Sie hatte gekocht und gebacken und hielt ihre Gäste auf mütterliche Art zum Essen und Trinken an. Nicht, dass es nötig gewesen wäre, denn die »Dörfler«, wie meine Eltern ihre Nachbarn auch nach dreißig Jahren noch nannten, ließen sich nicht zweimal bitten.
»Aha, der Finanzhai und die Studentin«, hörte ich von links.
»Mein Gott, wie die Zeit vergeht, schaut euch die Kinder an«, kam von rechts.
»Leonie hat zugelegt, findest du nicht auch?« Das kam natürlich von Rita Lewejohann, der Nachbarin, die mich noch nie hatte leiden können.
Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit, seit meinFußball in ihr Teeservice mit dem goldenen Rand geflogen war. Die olle Rita hatte einen Ersatz für das unersetzliche Service verlangt und mein Vater hatte mir das Taschengeld gekürzt, bis ich wenigstens einen kleinen Anteil am Schaden beglichen hatte. Zu Lernzwecken sei das, hatte er mir in einem Vater-Tochter-Gespräch erklärt, in dem seine humorvollen Augen so ernst blickten wie selten. Ich lernte also, dass auch unersetzliche Erbstücke ersetzt werden müssen und zwar auf Kosten eines sechsjährigen Wildfangs, der den Ball schoss, den der unsportliche Bruder im Tor nicht fing. Mein Bruder musste nichts zahlen. Zwei Tage lang versuchte ich verzweifelt, Daniel für diese Ungerechtigkeit zu hassen, aber es funktionierte nicht. Also änderte ich die Strategie, vergötterte Daniel weiterhin und konzentrierte meinen ganzen zahnlückigen Hass auf »Tante Rita«.
Die Tatsache, dass die Lewejohann mit ihrer Betrachtung über mein Körpergewicht recht hatte, trug auch nicht zu einer späten Aussöhnung bei. Ich aß inzwischen jeden Mittag in der Kantine, futterte Schokolade für die Nerven und war abends oft so müde, dass ich mich vom Sofa nur noch erhob, um aufs Klo oder ins Bett zu wanken. An Sport oder wenigstens mal einen Spaziergang war gar nicht zu denken.
»Du siehst toll aus, Kleines«, raunte mein Vater mir zu. »Lass dich von der alten Ziege nicht ärgern.«
»Immer noch im Subventionsbetrug tätig?«, fragte Daniel Rita mit seinem charmantesten Lächeln.
Rita lachte schrill, als hätte Daniel einen Witz gemacht. Alle Versammelten wussten, dass
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