Mönchsgesang
Geschöpf mit Federn beschämte ihn! Und obwohl sein Ende grausam war, obwohl das Rätsel in der Schachtel ihn unvollkommen macht, so ist er dennoch vollkommen nun, achtet streng, dass kein Gauner seine Pforte passiert.«
Alle warteten gebannt auf weitere Informationen, doch der Rätselmeister machte durch eine Geste deutlich, dass er die Fragestellung als beendet betrachtete. Mit einem kaum wahrnehmbaren Grinsen hörte er sich die Reaktionen seiner Rater an.
»Wer soll aus diesem beschissenen Kauderwelsch denn schlau werden?«
»Wahrscheinlich weiß er selber nicht, was er meint.«
»Gib uns wenigstens noch eine weitere Information!«
Der Rätselmeister schüttelte entschlossen den Kopf. »Ihr habt genug gehört. Nun müsst ihr raten!«
»Rappel doch mal an der Schachtel!«, sagte das Söhnchen des Wirtes keck.
Der Rätselmeister machte ein entrüstetes Gesicht. »Törichter Bengel! Glaubst du etwa, ich hätte die Schachtel nicht mit Samt auskleiden lassen, auf dass ihr geheiligter Inhalt nicht beschädigt wird?«
Nun entbrannte eine aufgeregte Diskussion. Man ließ die Mitteilungen des Rätselmeisters Revue passieren. Ein jeder stellte eine Vermutung in den Raum, die sogleich von einem anderen widerlegt wurde.
»Ein Geschöpf mit Federn? Was soll das sein? Ein Vogel?«
»Quatsch!«
»Was sonst?«
»Etwas Mysteriöses! Ein Phönix oder so was!«
»Und welcher Meister befahl wem, keine Nahrung mehr zu beschaffen?«
»Das frage ich mich auch.«
»Vielleicht einer von diesen Gildemeistern?«
»Hast du schon einmal einen Gildemeister gesehen, der in eine Schachtel passt, du Schwachkopf?«
»Und was hat ein Gildemeister mit einem Phönix zu tun?«
»Ich sag doch, es ist ein Vogel.«
Der Rätselmeister ließ sie eine Weile debattieren. Schließlich hob er eine Hand und bat um Ruhe.
»Es sieht nicht so aus, als könnte jemand von euch das Rätsel lösen.«
Niemand widersprach ihm. Sorgfältig steckte er die Schachtel in seine Tasche zurück und spazierte, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, durch die Tischreihen. Vor Heinrichs Tisch blieb er grinsend stehen.
»Nun, Meister Angeber? Auch keine Idee?«
Heinrich schob sich den letzten Rest seiner Pastete in den Mund. »Doch«, antwortete er schmatzend. »Aber dann bist du deinen Silbergulden los.«
»Ach was?« Die Mundwinkel des Rätselmeisters zuckten unsicher. »Nimm auf mich bloß keine Rücksicht. Ich bin ganz Ohr!«
Heinrich wischte über seinen Mund. »Nun, in der Schachtel befindet sich eine Reliquie«, sagte er und lehnte sich zurück. »Oder besser gesagt: Du behauptest, es sei eine Reliquie.«
Die Männer im Schankraum starrten auf den Rätselmeister, der nun merklich still geworden war.
»In deinem Rätsel ist vom heiligen Petrus die Rede«, fuhr Heinrich ruhig fort. »Und in der Schachtel befinden sich – angeblich, versteht sich – die Knochen seiner Hand.«
»Erklär uns das!«, rief das Mädchen hinter dem Schanktisch mit einem kecken Lächeln.
Heinrich zwinkerte ihr zu. »Gerne. Petrus war zunächst ein Fischer«, erklärte er. »Mit der Kraft seiner Hände zog er die Netze aus dem Wasser. Seine Hände dienten ihm also zur …?« Er stellte die Frage in den Raum.
»Nahrungsbeschaffung«, murmelten einige Stimmen wie erleuchtet.
Heinrich nickte schmunzelnd. »Der Meister, der ihn aufforderte, dies bleiben zu lassen, war kein Geringerer als Jesus Christus. Denn der wollte einen Menschenfischer aus ihm machen. Petrus hatte schon bald die wichtigste Position unter den Aposteln des Herrn eingenommen – er war ein primus inter pares!«
»Der Kerl hat Recht«, staunte einer der Steinmetze.
Der Rätselmeister hatte inzwischen Heinrich gegenüber Platz genommen und versuchte seine Zerknirschung zu verbergen, indem er sein Gesicht durch ein arrogantes Grienen verzog.
»Das fedrige Geschöpf, das ihn beschämte«, sprach Heinrich nun weiter, »war ein Hahn. Noch ehe dieser nämlich dreimal krähte, hatte Petrus seinen Herrn dreimal verleugnet.« Er beugte sich wieder vor und faltete die Hände über dem Tisch zusammen. »Sein späteres Ende war grausam: Die Römer ließen ihn kreuzigen – mit dem Kopf nach unten! Und obwohl die Knochen seiner Hand sich angeblich in jener Schachtel befinden, ist er nun vollkommen, denn er ist ein Heiliger und bewacht die Himmelspforte.« Er bedachte den Rätselmeister mit einem scheelen Blick. »Und er achtet darauf, dass kein Gauner diese Himmelspforte passiert!«
In der Wirtsstube
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