Mörder im Chat - Ostsee-Krimi : (Aus Rostock)
Geschichten, wie er dir die Bücher in Prag oder Budapest übergeben hat. Viele aus meiner Generation können sich das gar nicht mehr vorstellen, dass es im vorigen Jahrhundert verbotene Bücher gab, dass Bücher verbrannt wurden und dass man Bücher schmuggeln musste. Obwohl, Papa, wir beide wissen, dass das Bücherverbrennen öfter vorkommt und dass die Azteken nach dem Krieg gegen Azcapotzalco 1428 ihre Handschriften verbrannt haben, um die Geschichte neu zu verfassen.
Das Buch, das dir, wie du immer gesagt hast, fast das Genick gebrochen hat (nur fast, Papa?), ist natürlich auch noch da, Girolamo Benzoni: La Historia del Mondo Nuevo . Ein Buch auf Italienisch, das du nicht mal konntest, und die Stasitypen, die dir den Ärger gemacht hatten, konnten es bestimmt auch nicht! Und dann war es von 1572, wenn auch ein Reprint aus Graz. Und Graz war eben im Westen, obwohl es doch eigentlich im Süden ist … Ja, und nun studiere ich Spanisch und Italienisch am Romanischen Institut! Stell dir vor, ich werde eines Tages den Benzoni lesen können. Spanisch habe ich ja schon in der Schule gehabt, und mit dem subjuntivo hatte ich immer meine Probleme, aber nun studiere ich es! Du kannst stolz auf mich sein!
Papa, ich merke grade, es riecht komisch aus der Küche. Die Alte und der Typ sind auf ihrem Gehöft am Labussee, da nutze ich die Gelegenheit und koche einen Schädel ab, den ich präparieren will. Ich glaub, das Wasser kocht über!
Querido papá, te deseo que tengas mucha suerte – ein astreiner Subjunktiv Präsens, nicht wahr?
Dein Sohn Uayeb
PS: Nanahuatl, der Picklige, bereitet die Enthauptung seiner Mutter vor.
II Blutrausch
Das Blut klebte überall. Es klebte an den Möbeln und an den Wänden, an der Decke und am Fenster, am Boden und im Teppich. Dabei kam es in verschiedenen Formen vor, als Lache, als Wisch- und Ablaufspur, als Tropfen und als Spritzer. Jonas Uplegger hatte schon viel Blut gesehen, aber noch nie in dieser Verteilung. In der ganzen Wohnung schienen sich große und kleine Blutspuren zu befinden, wobei er bisher nur den Flur betreten hatte und den Raum, auf den der Flur geradewegs zulief und den man wohl als Wohnzimmer bezeichnen musste.
Diese Spuren, wie immer sie auch verteilt sein mochten, machten ihm nicht allzu viel aus. Was ihn störte, war der süßliche Schlachthausgeruch.
In allen Räumen rumorten die Kriminaltechniker, nur aus dem Wohnzimmer hatten sie sich für einen Moment zurückgezogen, damit Uplegger ihn in Ruhe in sich aufnehmen konnte – in Ruhe genießen, hatte Manfred Pentzien es genannt. Diesen Raum hatte er schon einmal gesehen. Auf dem kleinen Schreibtisch von IKEA hatte sich neben dem zugeklappten Laptop eine Blutpfütze gebildet, blutgetränkt waren der Drehstuhl davor und der zottelige Teppich zu Füßen des Stuhles, eine Wischspur zog sich über das Parkett. Die mit Raufaser tapezierten und hell gestrichenen Wände waren ebenso rot bespritzt wie die Decke; auch sie war mit Raufaser tapeziert, allerdings hatte man sie in einem zarten Zitronengelb gestrichen. Neben dem Lichtschalter hingen zwei Fotografien, unter ihnen stand die Kommode NYVOLL. Die Blumenvase war umgekippt. Ein Blick genügte, um festzustellen, dass die zu Boden gefallenen Blumen künstlich waren. Im Übrigen glänzte Blut auf den Rahmen und der Verglasung der Bilder, auf der Vase und auf NYVOLL.
Die Wohnung befand sich in Lütten Klein, in der Rigaer Straße, in einem der Punkthochhäuser. Sie war im sechsten Stock, der Blick aus dem blutbespritzten Fenster fiel auf ein weiteres Hochhaus, und die Mieterin hieß Lena Schultz. Aber es war eindeutig das Zimmer von Miriam.
Uplegger hatte selbst zuhause noch versucht, der Rostocker Studentin Miriam auf die Spur zu kommen. Er hatte bei Google die Suchwörter »Miriam Studentin Rostock« eingegeben und dafür ungefähr 277000 Ergebnisse erhalten – mehr als die Hansestadt Einwohner hatte. Zum Verfeinern der Suche hatte er ein Germanistik zugefügt: »Miriam Studentin Rostock Germanistik« lieferte sogar 345000 Einträge, die Einschränkung war also eine Erweiterung gewesen. Einige Artikel hatte er durchgeschaut, bis er bei der UNESP landete. UNESP bedeutete Universidade Estadual Paulista, bei einem Modellprojekt analysierten brasilianische Germanisten vom Campus Araraquara die zentralen Figuren Micha und Miriam des Romans Sonnenallee – an dieser Stelle hatte er die Suche aufgegeben.
Er verließ das Zimmer und trat ins Bad. Der Blutgeruch wurde
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