Mörder im Chat - Ostsee-Krimi : (Aus Rostock)
verzichten. Wegen einer gewissen Zwanghaftigkeit ihres Charakters – eine bei Kriminalisten nicht seltene Eigenschaft – schlug Barbara vor, an den Schwarzen Brettern der einzelnen Universitätsinstitute trotzdem ein Foto der Internet-Miriam auszuhängen.
Wendel war einverstanden, woraufhin Barbara Uplegger verkündete, er solle mit ihr morgen erst am späten Vormittag rechnen. Uplegger bedachte sie mit einem misstrauischen Blick, den sie wohl zu deuten wusste. Da sie ihm keine Rechenschaft schuldig war, schwieg sie, aber sie hatte wirklich vor, schnurstracks nach Hause zu fahren, ihren Kater zu versorgen, selbst irgendetwas Aufgewärmtes zu verzehren und dann ins Bett zu gehen.
Als sie an der Haltestelle Leibnizplatz auf die Straßenbahn wartete, die zu dieser späten Stunde nur selten fuhr, kam ihr guter Vorsatz ins Wanken. Sie entdeckte ein Restaurant, das sie bisher übersehen haben musste, oder es war gerade aufgemacht worden. Es regnete, erst in siebzehn Minuten würde eine Bahn auftauchen, das Licht aus dem Gastraum verhieß Wärme, Gemütlichkeit, eine Stärkung. Aber sie kannte die Gaststätte nicht, und nach Mitternacht hatte sie einfach keine Lust auf Experimente. Da schließlich aus Richtung des Hauptbahnhofes auch die Straßenbahn zu sehen war, fuhr sie durchnässt, frustriert, durstig und unzufrieden abstinent nach Hause. Mit geringem Stolz markierte sie einen weiteren alkoholfreien Tag unter dem x-ten Segelschiff im Hanse Sail -Kalender, ein Geschenk Upleggers, und wusste schon, dass sie nicht mehr lange durchhalten würde. Das Leben machte mit Alkohol keinen Spaß und ohne Alkohol noch weniger.
7-Ort, 12.19.19.14.11 13 Chuen 14 Yax
Lieber Papa,
es ist ziemlich spät, aber ich hatte versprochen, dir endlich einmal mein Zimmer zu beschreiben, was längst nicht mehr so aussieht wie das Kinderzimmer, das du noch kennst. Mir ist aber etwas dazwischengekommen, was dir gefallen wird: Ich habe ja schon mal geschrieben, dass ich von Mannheim aus öfters in Basel war, wegen dem Museum für Völkerkunde, dass das eigentlich schon wie ein zweites Zuhause ist. Oder eher wie ein drittes? Egal. Ich habe den Newsletter abonniert und war nun zu der Ausstellung Sprechende Steine . Scrittura Maya. Écriture Maya. 200 Schriftzeichen der Maya – die Entschlüsselung ihrer Geheimnisse. War eine schöne Ausstellung mit tollen Exponaten. Die Alte und der Typ haben alles bezahlt: Bahnfahrt, Flug ab Berlin, Hotel, Geld fürs Essen, Eintritt usw. Wenn es um Kohle geht, erfüllen sie mir (fast) jeden Wunsch. Sie haben ein schlechtes Gewissen.
Seit vorgestern bin ich wieder hier und will nun mein Versprechen einlösen. Mein Zimmer ist noch immer das unter dem Dach, von dem aus ich übers Wasser zum Hafen gucken kann. Der Typ hatte mal die Idee, daraus ein Gästezimmer zu machen, und wollte mich in den Bungalow stecken. Du siehst, er will mich möglichst weg von sich haben. Am liebsten wäre ihm wohl, wenn ich ausziehen würde. Aber den Gefallen tue ich ihm erst, wenn er tot ist. Nein: Wenn sie tot sind!
Mein Schreibtisch steht noch immer vor dem Fenster, damit ich beim Studieren auch mal rausgucken kann. Rechts davon habe ich jetzt Regale bis zur Decke, fast alle Reihen voll mit deinen Büchern.
Die Alte und der Typ wollten sie natürlich wegschmeißen, aber das habe ich nicht zugelassen. Was da alles steht: allein sieben Stehordner mit den alten Zeitschriften Lateinamerika – Semesterberichte der Sektion Lateinamerikawissenschaften und Asien, Afrika und Lateinamerika . Dann habe ich noch einen achten Stehordner, wo ausschließlich die Belegexemplare von Heft 2/89 der Semesterberichte drin sind, mit deinem genialen Aufsatz »Tezcatlipoca, tzompantli und tonalli: Der Schädelkult der vorspanischen Hochlandkulturen Mexikos als Ausdruck der Dialektik von Lebenskraft, Lebensangst und Lebensbejahung«, den ich bestimmt 20, 30 Mal gelesen habe. Schade, dass es nach der Wende nicht mehr geklappt hat mit der Westveröffentlichung.
Dann stehen da noch die vielen Bücher. Ich will die irgendwann mal katalogisieren, aber ich komme nicht dazu. Die ganzen Ordner mit den Zeitschriftenartikeln, die du vor dem Schredder gerettet hast, sind auch noch da. Und dann die Westbücher! Heute ist das ja Quatsch, die so zu nennen, weil es sozusagen nur noch Westbücher gibt. Aber die hüte ich besonders, vor allem die, die du gekriegt hast von Dr. Liebensteiner vom Institut für Iberoamerika-Kunde in Hamburg. Ich denke oft an die
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