Mörder im Chat - Ostsee-Krimi : (Aus Rostock)
Rauch in der Studentenbude brauchte sie frische Luft. Vom Meer her wehte eine mehr als frische Brise, die ihr nicht nur Regen ins Gesicht warf, sondern auch einzelne Haarsträhnen als Schleier vor die Augen legte. Durch diesen Vorhang sah sie die aufgereihten Wohnblocks der Danziger und Turkuer Straße, die Hochhäuser in der Ahlbecker und Danziger sowie das Punkthochhaus bei der Straßenbahnhaltestelle Rügener Straße, das ihrer Meinung nach aber ebenfalls zur Ahlbecker Straße gehörte: War es nicht die Nummer 8? Barbara kannte sich aus, hatte sie doch als Jugendliche einige Zeit mit ihrer versoffenen Mutter hier gewohnt. Diese war inzwischen mit Korsakow für immer hospitalisiert worden, wie Barbara es für sich nannte, denn mit anderen sprach sie nie über diese Person, die nach dem Tod des brutalen Vaters mit ihrer Freiheit nichts anzufangen gewusst und sich nach alter Knechtschaft zurückgesehnt hatte: klare Verhältnisse, in denen sie wenigstens gewusst hatte, wofür sie geschlagen worden war.
So pervers war die menschliche Seele – der hilflose und ewig bedürftige Nesthocker Mensch war womöglich für die Freiheit gar nicht geeignet. Barbara griff nach ihrem Handy. Soweit sie sich erinnerte, war nach der Wende allein die Gdansker in Danziger Straße umbenannt worden, und man fragte sich, weshalb.
Am anderen Ende der Leitung erklang ein Geräusch, das allgemein Klingeln genannt wurde, obwohl es für den Anrufenden ein Tuten war. Nach dem dritten Tuten meldete sich eine Stimme. »Oberleutnant Erni?«, stellte er sich im Frageton vor, so als zweifle er an seiner Existenz und müsse sich ihrer stets neu versichern. Vielleicht war man in der Schweiz ja existenzialistisch? Für ein so kleines Land galt bestimmt Sartres früher viel zitierter und inzwischen mit dem Urheber fast vergessener Spruch: Die Hölle, das sind die anderen. Vorzugsweise natürlich die großen Anrainerstaaten …
»Hauptkommissarin Riedbiester von der Kripo Rostock«, sagte Barbara und dachte: Sich ihrer versichern , das ist Genitiv. Wie nach wegen. Wegen regiert den Genitiv!
»Das ist gut, dass Sie anrufen, odrrr?«, meinte der Kantonskriminalpolizist. »Wir haben uns intensiv mit dem Computer des Hagner, Stephan, beschäftigt, auch mit all seinen Internetverbindungen eh-te-zeh. Der junge Mann, gegen den im Übrigen in der Schweiz nichts vorliegt, hat doch tatsächlich versucht, seine Ai-Pi zu verschleiern, odrrr? Aber wir … nicht ich, sondern unser Spezialist für solche Fälle, der ist ihm schnell auf die Schliche gekommen, weil nämlich …«, leises Rascheln von Papier, »… weil er nämlich JAVA nicht deaktiviert hatte.«
»Aha!« Mein Gott, dieses JAVA! Das war doch eine Insel, wie konnte man die denn deaktivieren? Mittels eines Befehls, hieß es – wer befahl den Einsatz einer Atombombe, um Java auszulöschen? Hör auf, Barbara, deine Assoziationen entgleiten wieder mal – und kein Alkohol, sie zu zügeln.
»Ja. Ob Hagner nun etwas Strafbares zu verschleiern hatte, wissen wir nicht. Ich glaube aber, es ist eher etwas Politisches, denn er ist seit ihrer Gründung am 12. Juli 2009 Mitglied der Schweizer Piratenpartei und hat auch an diversen Stopp ACTA -Kundgebungen teilgenommen, letztmalig auf dem Helvetiaplatz in Zürich. Mir haben die Motti so gut gefallen, dass ich sie mir aufgeschrieben habe: Wir demonstrieren für Informationsfreiheit im Internet! Wir demonstrieren gegen die Zementierung des reformbedürftigen Urheberrechts! Wir demonstrieren gegen die Hegemonie des ›geistigen Eigentums‹! Wir demonstrieren für Generika-Medikamente in Entwicklungsländern! Wir demonstrieren für mehr Demokratie und Transparenz! Wir demonstrieren für gegen alles, könnte man fast sagen, odrrr? Aber mehr gegen!«
Barbara war verblüfft. »Ermitteln Sie denn gegen Hagner?«
»Nein, aber wir sind gern umfassend informiert. Als Täter für den Mord in Ihrer Stadt können wir ihn ja ausschließen … Man kann nicht gleichzeitig in der Schweiz und an der Ostsee sein …«
Im Zeitalter des Internets war das vielleicht doch möglich. Immerhin gab es bereits Beamer, einen davon sogar bei der Rostocker Kriminalpolizei.
»Hagner ist nicht zufällig auch gegen Bertelsmann?«
»Wie? Darum haben wir uns nicht gekümmert. Bertelsmann? Ist das nicht ein deutscher Medienkonzern?«
»Unter anderem. Es gibt da aber auch eine erzreaktionäre Stiftung … also die Linken halten sie dafür … Egal.« Barbara machte eine wegwerfende Handbewegung
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