Moerder Im Gespensterwald
Halbdunkel, denn die Gardinen waren zugezogen. Marvin hatte sich auf sein Bett geworfen und das Gesicht ins Kissen gepresst. Sein Körper zuckte, und als er den Kopf hob, sah Uplegger ein tränenüberstömtes Gesicht. Obwohl er die Ursache nicht kannte, krampfte sich sein mitleidiges Herz zusammen: So hatte er seinen Jungen seit Jahren nicht gesehen.
Die Tränen machten ihn ratlos, und wie immer in solchen emotionsgeladenen Situationen wusste er nicht, was er tun sollte. Ein weinender Mensch brauchte zweifellos Trost, aber wie sollte man ihn trösten? Mit Worten? Mit einer Berührung? Sollte er seinen Sohn in den Arm nehmen? Bei Dünnfelder hatte er es gekonnt. Bei Marvin … Der Junge wollte doch keine Zärtlichkeiten mehr!
Uplegger rollte den Drehstuhl vom Computertisch neben das Bett und setzte sich. Sein Sohn biss sich derweil auf die Lippen und versuchte, die Tränen mit dem linken Unterarm fortzuwischen.
»Ist jemand gestorben?«, fragte Uplegger. Etwas dümmlich, wie er fand. Doch Marvin nickte. »Oh, Gott, wer denn?«
»Tim.«
Uplegger hatte das Gefühl, einen Schlag in die Magengrube erhalten zu haben. »Tim ist … ein Unfall?«
»Nein, nicht wirklich. Für mich ist er gestorben!« Marvin schluchzte.
»Wie? Was ist passiert?«
»Ach, Papa!« Der Junge stützte sich auf einen Arm und richtete sich ein wenig auf. »Ich habe ihn heute angerufen … wollte wissen, wie’s ihm so geht. Ob er Stress mit seinen Alten hatte und so.« Abermals schüttelte es ihn, und Tränen rannen. »Er … er hat … seine Mutter hat ihm den Hörer weggenommen …« Aus den Rinnsalen wurden Sturzbäche, und ein Rotzfähnchen kam aus der Nase. »Sie hat gesagt, Tim darf … wir dürfen … Papa, er hat ihnen gesagt, dass ich den Stoff besorgt habe! Aber das stimmt nicht! Er hat gelogen …«
»Um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen?«
»Genau.«
»Um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, hat er dich belastet?« Das kannte Uplegger aus der täglichen Arbeit.
»Ja.« Tränen über Tränen. »Dabei war er das. Also er hat … Er kennt da so Leute, Autonome … Nachdem wir keine Lust mehr auf Stand Up Paddling hatten, sind wir durch die Stadt gezogen, und da hatte er die Idee. Ich musste auf dem Neuen Markt warten, und nach ’ner halben Stunde war er wieder da – mit einem Piece. Und jetzt behauptet er, dass ich …« Marvin drückte sein Gesicht wieder ins Kissen. Ohne lange zu überlegen wechselte Uplegger vom Drehstuhl auf die Bettkante und ließ die Rechte über ihm schweben: Wohin mit ihr? Wo hatte die väterliche Hand den größten Effekt?
Mein Gott, nicht grübeln! Zeige einfach deine Liebe! Aber wie?
Uplegger legte die Hand auf Marvins Haar. Und der zog seinen Kopf nicht weg.
»Ist es eigentlich das erste Mal, dass ein Freund dich verrät?«, fragte Uplegger mit leiser, sanfter Stimme – mit derselben Stimme, die er in Vernehmungen einsetzte, wenn er die Rolle des good cop spielte.
»Nee. Im Kindergarten … Aber es ist Tim!«
Ja, es war Tim. Der ABF, der allerbeste Freund. Dieser Verrat schmeckte besonders bitter.
Sauer stieß es Uplegger auf, als er das Telefon läuten hörte. Denn es war ein hartnäckiger Ruf, zuerst aus dem Festnetz, dann aus dem Äther.
Barbara hatte mehrmals die Rollen gewechselt, von der Kriminalistin zur Tierärztin zur Köchin, wobei sie in letzterer am wenigsten brillierte. Nach dem langen Tag war ihr Hunger so groß gewesen, im schlimmsten Falle hätte sie auch mit Käse überbackene Buchdeckel verzehrt, aber das war nun doch nicht nötig. Ganz im Gegenteil, sie hatte sich einen Berg von Bratkartoffeln mit Speck und Zwiebeln gebrutzelt, dazu drei Spiegeleier. Oftmals waren es gerade die einfachen Gerichte, die am besten schmeckten; sie hatte sogar noch saure Gurken gefunden – und sich sofort der sauren Drops erinnert. Was war nur mit ihr los? War sie schwanger? Das war nicht gut möglich, es sei denn vom Heiligen Geist. Vielleicht hatte der göttliche Säufer sie ausgewählt, einen neuen Messias auszutragen …
Während all dessen war eine Rolle konstant gewesen, die der Trinkerin. Jede erfolgreiche Verrichtung hatte sie mit einem Schnaps belohnt, und so war ihr schon etwas schwummrig, als sie sich auf die Couch legte und die Zeitungsbände vornahm, um einen Ausflug in das Jahr 2005 zu unternehmen.
Bruno sprang ihr auf den Bauch, aber die Bände waren zu groß und standen wie eine Mauer zwischen ihm und ihrer Brust, also trollte er sich nach längerem fordernden
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