Mörder im Zug
Uplegger wies sich aus. Der Wachschützer griff nach einem Telefonhörer, wechselte ein paar Worte mit wem auch immer und deutete dann auf einen Fahrstuhl: »Vierter Stock.«
»Mir ist eingefallen, dass man vor ein paar Jahren öfter etwas von diesem Kaviarladen gelesen hat«, sagte Barbara, während sie auf den Aufzug warteten.
»In der …?«
»Ja, natürlich! Im Lokalteil wurde Rauch von den Verantwortlichen in Güstrow und Schwerin lange Zeit als Heilsbringer gefeiert. Als Arbeitsplatzbeschaffer, Sie wissen schon. Aber dann ist es still um ihn und die Störfarm geworden.«
»Die werden begriffen haben, mit wem sie es zu tun haben«, meinte Uplegger. Ein Glockenton verkündete, dass der Lift angekommen war.
»Um so was zu kapieren, brauchen die Herrschaften mit der rosaroten Lügenbrille doch ewig!« Barbara ließ ihrem Kollegen den Vortritt. Als sie den Fahrkorb betrat, schwankte er leicht. »Das Bewahren oder Schaffen von Arbeitsplätzen ist ein ähnliches Killerargument wie die Globalisierung. Alle tun so, als sei das etwas vollkommen Neues und Unbekanntes, dabei hat die Globalisierung im 19. Jahrhundert angefangen.«
»Viel früher.« Uplegger drückte den Knopf mit der Ziffer 4. »Spätestens in der Renaissance.«
»Möglicherweise.« Barbara betrachtete das Display, das die Etagen anzeigte. »Aber als Killerphrase hat man sie erst in den letzten Jahrzehnten ausgegraben.«
»Die Globalisierung soll ja auch eine Chance sein«, sagte Uplegger auf Stockwerk zwei.
»Aber nur, wenn die Bevölkerung stillhält und jede bittere Pille schluckt. Und von wem wird uns diese Medizin verordnet?« Etage drei. »Von Politikern, die dermaßen globalisiert sind, dass sie nicht eine Fremdsprache beherrschen.« Etage vier – und der Glockenton.
Draußen war es so hell geworden, wie es an einem wolkenverhangenen Novembertag werden konnte. Nebelfetzen hingen zwischen den Ästen der entlaubten Bäume, von denen es tropfte. Die Luft war feucht, und es roch nach Schnee.
Der Mann sah das alles jetzt nicht nur klar, sondern überdeutlich, wie mit dem scharfen Blick eines Raubtieres, und wie ein Raubtier in der Falle fühlte er sich auch. Die Stimmen waren zur Ruhe gekommen. Der Druck im Kopf hatte sich in den Brustkorb verlagert, wo er die Rippen zu zersprengen drohte.
Der Mann lehnte an der Wand, schaute ängstlich zum Fenster hinaus und atmete flach. Die Frau aus dem Nebenhaus war zurückgekehrt und beobachtete ihn. Auf der Straße stand ein Auto, das er noch nie gesehen hatte. Der Wagen war leer, aber er spürte den Fahrer und seine Komplizen in unmittelbarer Nähe. Wahrscheinlich waren sie schon auf dem Grundstück und hatten sich irgendwo versteckt, im Geräteschuppen oder hinter dem Gewächshaus, in dem seit langem nichts mehr wuchs.
Er musste raus hier! Sofort! Also stürzte er in die Diele, riss die Daunenjacke von der Garderobe – und erstarrte.
Auf der Jacke war Blut. Viel Blut. Und er erinnerte sich: an diesen jungen Mann. Daran, wie er sich über ihn beugte. Er hatte auf dem Boden gelegen, hatte geblutet, Gott, ja! Stark geblutet.
Hatte er ihm helfen wollen? Früher war er ein hilfsbereiter Mensch gewesen. Bevor ihn die Menschen – die Menschheit! – enttäuscht hatte. Bevor er das Vertrauen verloren hatte.
Die Kollegen, die Freunde, sie hatten immer zu ihm gesagt: »Auf dich kann man sich verlassen.«
Er hatte den Eindruck, als mache sich jemand an der Tür zu schaffen. Entsetzt prallte er zurück. Sie waren also gekommen. Jetzt war er dran. Weil er ein Zeuge war. Weil er es gesehen hatte. Er kannte alle ihre Untaten, ihre Verbrechen, ihre unzählbaren Opfer. Der junge Mann war nur einer in einer endlosen Kette von …
Raus! Sofort!
Aber wie? Vor den Türen standen sie. Und sie waren bestimmt auch schon im Haus. Sie gingen ja praktisch längst ein und aus. Warum kamen sie heute durch die Tür?
Der Mann schnappte sich eine andere, eine saubere Jacke, hetzte ins Schlafzimmer zurück und sprang aus dem Fenster. Er lief ein paar Schritte über den aufgeweichten Boden und merkte erst jetzt, dass er keine Schuhe trug. Das machte nichts, im Schuppen standen noch alte Filzstiefel.
Er hatte wieder diesen entsetzlichen Druck im Kopf. Druck in der Brust, im Kopf, auch im Bauch. Druck überall.
Er brauchte dringend ein Radio.
Simon Rauch empfing sie in einem riesigen Arbeitszimmer mit zwei von der Decke bis zum Parkett reichenden Glasfronten, die den Blick auf die Fabrikhalle freigaben. Aus Glas und
Weitere Kostenlose Bücher