Mörder Quote
der Nase und machte ein Gesicht, als ob sie Marlene Dietrich in »Zeugin der Anklage« in 3D darstellen wollte.
»Meine Damen und Herren von der Presse, ich habe noch etwas mitzuteilen!« Nein. Nicht die Dietrich. Eher Joan Collins, dachte Tanya. Aber wer auch immer – es funktionierte. Alle sahen zu Chantal hinüber, und die Fotografen schossen das Motiv schon mal vorsorglich ab. »Wir trauern heute um meine liebe Kollegin Xena, ein aufgehender Stern am Pophimmel, der viel zu früh verloschen ist!«
Du liebe Güte, wer hatte ihr denn das geschrieben? Tanya musste ein Kichern unterdrücken. Die Textfirma »Soap to Go«?
Chantal hob die Arme. »Aber gerade an so einem Tag der ehrlichen Gefühle ist kein Platz für eine Lüge. Und deshalb möchte ich hier und heute klarstellen, dass jemand in diesem Raum – jemand von Music Star 3000 – nicht die Wahrheit sagt, was seine Identität angeht.«
Jetzt hatte Chantal Tanya doch. Manchmal konnte billiges Drama wirklich packend sein. Würde Chantal jetzt enthüllen, dass Tanja sich ein Y einverleibt hatte und schnell eine Silbe von Becker abgetrennt hatte wie Chantal ein paar Zentimeter von ihrer Natur? Oder dass das beliebte Pitterchen ein tragischer Alki war? Oder Marco ein Arschloch? Aber was wäre daran neu?
»Jemand hier lügt!« Jetzt kramte Chantal aus ihrer riesigen Handtasche einen Umschlag hervor und streckte ihn anklagend in Richtung Presse wie in einer amerikanischen Gerichtsserie. »Jemand hier spielt der ganzen Welt schlechtes Theater vor!«
»Du mein Schatz, du!«, wollte Tanya rufen und wurde nun innerlich wirklich fast hysterisch. Mit einem effektvollen Ruck zog Marlene Collins ein Foto aus dem Umschlag und drehte es um. Darauf war ein freundliches Mädchengesicht mit vielen Piercings abgebildet. »Die sogenannte Fatima hier ist nicht Fatima aus Berlin-Kreuzberg, sondern die Jungschauspielerin Nesrin Akin aus Berlin-Mitte!« Mit einem triumphalen Gesichtsausdruck hielt Chantal das Foto der unbekopftuchten Ex-Fatima in deren Richtung, als ob sie gerade persönlich die Berliner Mauer durchbrochen hätte. Die Kameras blitzten ein Silvesterfeuerwerk auf die überraschte Konkurrentin.
Aber die Transe der Anklage hatte wohl nicht mit der Coolness Berliner Schauspielschülerinnen gerechnet. »Das ist natürlich richtig, meine liebe Chantal …«, mit einem schnellen Ruck zog sich die enttarnte Nesrin das Kopftuch herunter und warf es auf den Tisch wie ein lästiges Requisit. Darunter leuchtete eine platinblond gefärbte, sehr kurze Strubbelfrisur. »Ich bin Nesrin Akin, Schauspielerin, und habe diese Maskerade hier nur durchgezogen, um einen künstlerischen Kommentar zu der Rolle der muslimischen Frau in der heutigen Mediengesellschaft zu gestalten. Das Ganze ist Teil meines Theatersoloprojekts ›Muslima 3000‹, das ich ab September in den Berliner Sophiensälen aufführen werde und von dem man jetzt Ausschnitte auf meiner Homepage muslima3000.de sehen kann, darunter …«, die Jungschauspielerin machte eine strategische Pause, ehe ihre werbewirksame Rückhand genau in Richtung Chantal zielte wie Venus Williams an ihrem besten Grand-Slam-Tag, »… darunter auch viel Backstagematerial von den Proben, das unter anderem zeigt, wie das alberne Imitieren eines weiblichen 50er-Jahre-Glamourklischees leider selbst im transsexuellen Gendermilieu nicht zu feministischem Fortschritt, sondern nur zur weiteren Zementierung der unterdrückten Frau im Entertainment führt! Außerdem möchte ich darauf hinweisen, dass ich tatsächlich auch ohne Kopftuch eine echte Muslima bin. Und sehr religiös.«
Das hatte gesessen. Chantal stand der Mund offen, während sie immer noch über den letzten langen Satz ihrer Gegnerin nachdachte. Als sie ihn begriffen hatte, fiel ihr anscheinend auch keine Geste aus dem Bereich »selbstbewusster Postfeminismus« ein, sondern im Gegenteil – wie Alexis einst auf Crystal hechtete sie nun über den Tisch, krallte sich die coole Ex-Fatima und warf sie zu Boden. Das Gerangel, das nun folgte, wurde von den Blitzen der Fotografen so hell ausgeleuchtet, als ob man einen wissenschaftlichen Laborfilm drehte, und auch die Tonleute der anwesenden TV -Teams kauerten sich so nah wie möglich an das Knäuel aus Türkinnenpower und scharfen grünen langen Fingernägeln heran, um auf keinen Fall eine der lauthals ins Feld geführten Beschimpfungen zu verpassen. »Retrokuh« und »Schauspielschlampe« waren zwei der harmloseren.
Tanya konnte nicht mehr,
Weitere Kostenlose Bücher