Mörder und Marder
erreichen.«
Matzbach ignorierte das Quietschen der eigenen Socken. Höhnisch sagte er: »Erstens gibt es in dieser Tundra nirgendwo ein Haus. Du leidest an Zwangsvorstellungen. Partner-Suche, Nestbau, Eierstehlen und so. Zweitens hast du Schweißfüße, und die sind von beständiger Feuchtigkeit. Schieb es also nicht auf den jungfräulichen Schnee.«
Nach vielen Schritten erreichten sie eine Gruppe alter Kastanien; sie hielten den Schnee auf, aber zu einem möglicherweise schlimmen Preis.
Hoff starrte in die Höhe. »Ich weiß nicht, ob die Äste das überstehen. Immerhin hat der Nachbar geräumt. Aber das bringt nichts mehr.«
Ein schneepflugähnliches Gerät hatte eine Fahrbahn freigemacht; rechts und links türmten sich Wälle. An ihnen ließ sich ablesen, wie es draußen aussehen mochte, auf freien Flächen, ungeschützt von alten Baumkronen. Zu sehen war dort jedoch nur der Schneefall.
Matzbach wuchtete das Kinn ins Weiße. »Und du meinst, du findest einen Weg? Heim zum Iglu, oder wohin auch immer?«
Hoff ging weiter. Über die Schulter sagte er: »Du kannst mir ja auf Verdacht folgen. Oh, was werde ich froh sein, wenn ich nicht mehr mit dir allein bin.«
Baltasar kicherte. »Tut’s dir schon leid, daß du mich mitgenommen hast?«
Hoff knurrte. Sie drangen wieder in den umfassenden Schnee ein.
»Er hat etwas Göttliches, der Schnee«, sagte Matzbach laut.
»Häh?«
»Pascal. Gott ist eine unendliche Sphäre, deren Mittelpunkt überall und deren Grenze nirgends ist. Oder so ähnlich. Wo ist das Zentrum des Schnees, wo seine Begrenzung? Ach, man sollte viel mehr wissen.«
Henry blieb stehen; trotz aller Pflege waren seine gebleckten Zähne in dieser Umgebung gelb. Es sollte ein Lächeln darstellen. »Manchmal bist du zum Totschlagen, und manchmal muß man dich einfach mögen. Wie einen Säugling, der die Windeln vollscheißt und das Produkt im nächsten Moment als Gold anpreist.«
Baltasar schob die Unterlippe vor, zog sie jedoch zurück, als Schnee darauf niederging. »Du redest wirr.«
»Das ist, weil du alles mit deinem Wirrkopf infizierst.«
Keuchend, geblendet und völlig durchnäßt erreichten sie nach langem Irren das Ziel. Bei jedem Schritt sanken sie bis über die Knie in den Schnee, und als Hoff mit einem Schrei vornüber stürzte, war es ein erleichterter Laut des Triumphs. Er rappelte sich auf und trat gegen etwas, das Matzbach nicht sehen konnte, obwohl er unmittelbar neben Henry stand.
»Hast du die Marschzahl gefunden?« sagte Baltasar.
»Nein, die erste Treppenstufe. Noch drei Meter oder so, dann sind wir unter dem Portal.
Home, sweet home
.«
Die Reise durch zähen Schnee und undurchschaubare Luft hatte ein Ende. Polternd erklommen sie die Stufen zur überdachten Veranda eines Hauses.
Plötzlich standen sie in milchigem Licht und im Trockenen. Die Veranda war fast schneefrei; nur hier und da trudelten Flocken über das Geländer, klammerten sich einen Moment ans Holz und stürzten dann ab. Unter dem Holzdach lugten rechts und links neben einer Tür je zwei Fenster ins Land, das nicht zu sehen war. Vor der Tür zeigten Flecken, daß vor kurzem schon andere Eiszeitbewohner Schnee von ihren Schuhen abgeschlagen hatten.
Die Tür wurde geöffnet, noch ehe Henry seine Beinkleider entweißt hatte.
»Ah. Henry und der geehrte Gast.«
Matzbach schloß die Augen und sah die Stimme: ein venezianischer Dolch aus rauchigem Glas, mit abgewandter Schneide. Er blinzelte, musterte das Gesicht der Frau, die eben die Wange an Henrys legte. Alles schien ein wenig überbetont: die Haut zu sahnig, aber ohne Kosmetik; die Fragezeichen der Brauen zu ebenmäßig in der Wölbung, darunter das Sprühen der Augen zu grün; die Lippen zu voll, aber noch nicht geschwollen.
Sie löste sich aus der flüchtigen Umarmung. Henry war wie Matzbach einsneunzig groß und hatte sich kaum gebückt; die Frau mußte mindestens einsachtzig sein. Zwischen dem Schnee und der gilbenden Hausfassade war ihr hüftlanges Haar wie Mahagoni bei Sonnenuntergang, und Baltasar fragte sich, wie es an einem klaren Herbstmorgen sein mochte. Sie nickte ihm zu und wandte sich um. Durch die schäbige Diele ging sie voraus, öffnete eine Zimmertür. Unter dem ausgeleierten Alpaka-Pullover war etwas zuviel Fleisch, und sie bewegte sich ein wenig zu sehr wie ein großes exotisches Raubtier. Alle Details waren überzeichnet, aber der Gesamteindruck schien eher untertrieben – ein
understatement
opulenter Einzelheiten, die von etwas
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