Moerderische Fracht
nicht mehr viel übrig blieb. Die Toilettenkabine sah aus wie ein Schlachthaus. Ich bin froh, dass es so etwas bei uns in Cuxhaven nicht gibt.«
»Ja, schön für Sie! Und was hat das alles mit uns zu tun?«, fragte Anna.
»Mit Ihnen nichts, sondern mit Dr. Nyström!«
Winter schien von Annas provozierendem Tonfall nicht im Mindesten irritiert zu sein. Vielleicht hatte er zu Hause ein paar pubertierende Töchter, die sein Nervenkostüm gestählt hatten.
»Eben nicht!«, sagte ich. »Da liegen Sie genauso falsch wie Kommissar Geldorf. Er hat mir vor mehr als zwei Jahren fast haargenau die gleiche Geschichte erzählt, es hat schon damals zu nichts geführt. Ungefähr zur Mordzeit hielt auch ich mich in der Bahnhofshalle auf. Ich wollte ein paar Zugverbindungen klären und geriet leider in eine Rangelei mit ein paar Jugendlichen. Ich bekam einen Faustschlag ab, und weil ich mit meinem ramponierten Gesicht nicht in die U-Bahn wollte, bin ich mit einem Taxi zu Helen Jonas’ Wohnung gefahren. Blöderweise hat der Taxifahrer diese Fahrt als irgendwie verdächtig bei der Polizei gemeldet, und ein paar Stunden später stand Geldorf auf der Matte. Praktisch vom ersten Augenblick an hat er mir nicht geglaubt und auf Teufel komm raus versucht, mich mit dem Toten auf dem Klo in Verbindung zu bringen. Später gab es angeblich noch einen anonymen Anrufer, der behauptete, wenn man Näheres über den Bahnhofsmord wissen wolle, solle man Dr. Nyström fragen. Und das hat Geldorf auch getan, und zwar reichlich. Dauernd hat er mir auf den Füßen herumgestanden. Übrigens eine nette Parallele zu der Situation, die wir jetzt haben. Irgendjemand behauptet einfach: ›Wenn Sie wissen wollen, wer es war, fragen Sie mal Dr. Nyström‹ – und schon habe ich die Polizei am Hals.«
»Kriminaloberkommissar Geldorf war nicht irgendjemand!«
»Entschuldigung, so habe ich es nicht gemeint, aber das wissen Sie auch!«
Winter nickte bedächtig.
»Der Kollege Geldorf hatte tatsächlich den Verdacht, dass Sie was mit der Bahnhofsgeschichte zu tun hatten. Aus den Akten geht hervor, dass er Sie zwar nicht für einen Mörder hielt, aber sicher war, dass Sie ihn anlügen.«
»Das ist nicht wahr!«
»Wer weiß? Es gab bei dieser Mordgeschichte ein geheimnisvolles Detail, das ich noch gar nicht erwähnt habe. Ungefähr zur Tatzeit erhielt die Notrufzentrale einen Anruf. Eine Männerstimme sagte, auf der Bahnhofstoilette sei jemand schwer verletzt worden. Verstehen Sie: schwer verletzt, nicht tot. Die Notrufzentrale hat diesen Anruf natürlich aufgezeichnet, wenn auch in schlechter Qualität, und diese Aufnahme hat Geldorf keine Ruhe mehr gelassen. Er hat eine sehr aufwendige kriminaltechnische Untersuchung veranlasst. Digitales Remastering, Frequenzspektrumanalyse, auditives Profiling, Voiceprint und so weiter, all die feinen Sachen, die die Jungs im Labor heutzutage so draufhaben. Es war die Stimme eines Mannes in mittleren Jahren. Akzentfreies Hochdeutsch, keine dialektalen Färbungen. Geldorf war sicher, dass der Besitzer dieser Stimme am Tatort gewesen sein musste. Bedauerlicherweise hatte er keine Vergleichsstimme.«
Leider falsch, dachte ich, er hat es nur nicht in den Akten vermerkt, sondern versucht, mich damit zu erpressen. Geldorf hatte sich im Max-Planck-Institut in München Mitschnitte einer Vorlesung von mir besorgt und mich mit diesen Aufnahmen in der Hand gehabt. Selbstverständlich war ich am Tatort gewesen. Ich hatte in einem Schließfach eine von Helens Taschen gefunden, die zu meinem Entsetzen nicht bloß Kleidung und ein Flugticket, sondern auch einen kleinkalibrigen Revolver enthielt. Wenig später war ich wegen dieser Tasche von einem Mann in der Bahnhofstoilette brutal angegriffen worden und hatte in Notwehr mit dem kleinen Revolver auf ihn geschossen. Bedauerlicherweise traf der Schuss in den Oberschenkel die Arteria femoralis, und weil ich ihn nicht verbluten lassen wollte, bastelte ich mit seinem Gürtel und einem T-Shirt aus Helens Tasche eine notdürftige Arterienpresse. Dann hatte ich mit dem Revolver und der Tasche die Toilette verlassen und die Notrufzentrale angerufen. Etwa zu diesem Zeitpunkt war der Verletzte von einem seiner Kumpane mit einem Kopfschuss aus einer großkalibrigen Waffe getötet worden.
Der Gebrauch zweier unterschiedlicher Waffen, die unerklärliche Herkunft des teuren Damen-T-Shirts, und die Frage, wer überhaupt die Arterienpresse angelegt hatte, nur um dem Mann anschließend in den Kopf
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