Moerderische Fracht
Es war die Aufzeichnung einer Sendung von n-tv vom 18. September. Der Sprecher blickte ernst und bedeutungsschwer in die Kamera.
»In Belgien kam es in den frühen Morgenstunden zu einem spektakulären Anschlag auf einen Kleinbus, der mit vier Männern besetzt war. Nach Angaben der Polizei wurde der Van beim Verlassen der Autobahn in Höhe der Stadt Mechelen von mindestens zwei Granaten getroffen, kam von der Straße ab und brannte völlig aus. Wie ein Sprecher der belgischen Behörden mitteilte, wurden die Granaten vermutlich mit einem Granatwerfer aus nicht mehr als dreihundert Metern Entfernung abgefeuert. Von den Tätern fehlt jede Spur. Auch die Identität der Wageninsassen konnte bislang nicht geklärt werden. In den weit verteilten Trümmern des Autowracks wurden allerdings Teile eines Rollstuhls gefunden, die vermuten lassen …«
Elena hatte den Ton abgestellt.
»Das ging aber schnell«, sagte sie.
Ich saß reglos da und starrte auf den Laptop. Elena legte vorsichtig ihren Arm um meine Schultern.
»Verstehst du, was diese Meldung bedeutet?«, fragte sie sanft.
Ich nickte, aber eigentlich verstand ich gar nichts.
»Es bedeutet, dass wir keine Angst mehr haben müssen!«, sagte Elena.
Ich nickte wieder und starrte weiter auf den Bildschirm.
»Das Schwierige an der Sache war, dass er mir natürlich nicht vertraute.« Elena sprach langsam und überartikuliert, es klang so, als tastete sie jedes Wort im Mund einzeln ab, bevor sie es aussprach. »Nach meinen rotzigen Bemerkungen im Maritimen Lagezentrum hatte er mich als Gegnerin der russischen Regierung ausgemacht, was ja auch stimmt. Er fand mich attraktiv, aber er mochte mich nicht. Doch ich war sehr überzeugend.«
»Was hast du getan?«, flüsterte ich.
Elena beugte sich zu mir vor.
»Ich erzähle es dir. Jetzt und hier und nur ein einziges Mal. Danach werde ich nie wieder darüber sprechen. Hast du das verstanden?«
Ich nickte.
»Erinnerst du dich an den Abend im Krankenhaus? Es muss nach Mitternacht gewesen sein. Du bist kurz aufgewacht und hast mir von dem Van erzählt und das Nummernschild aufgeschrieben. Es war sehr krakelig, trotzdem konnte ich es entziffern. Ein belgisches Kennzeichen. Ich habe es noch einmal abgeschrieben und den Zettel eingesteckt, ohne groß darüber nachzudenken.«
Elena lehnte sich zurück und schloss die Augen. Ihr Gesicht hatte einen abwesenden und in sich gekehrten Ausdruck angenommen, und ihre Sandpapierstimme klang leise und konzentriert.
»Warum habe ich dieses Autokennzeichen noch einmal abgeschrieben? Für die Polizei? Ich weiß es nicht. Oder vielleicht doch? Es gibt viele Arten von Wissen. Zum Beispiel Wissen, das man nicht wahrhaben will, Gedanken, die man niemals durch die Vordertür reinlassen würde und die doch ihren Weg durch den Lieferanteneingang finden. Es ist merkwürdig. Ich bin aufgeregt, verängstigt und völlig durcheinander, dennoch ist da in meinem Hinterkopf der vage Schatten einer Idee.
Du bist in einem entsetzlichen Zustand. Kaum ein Zentimeter deines Körpers ohne Prellungen und Blutergüsse. Dein Becken ist angebrochen, und drei deiner Rippen sind es auch. Du bekommst schlecht Luft. Als du versucht hast, mit mir zu sprechen, in den wenigen Minuten, die wir hatten, habe ich dich kaum verstanden. Du hast einen Nasenbeinbruch, dein rechtes Jochbein ist zertrümmert, deine vorderen Schneidezähne sind abgebrochen und dein Kiefer verdrahtet. Mittelgesichtsfraktur nennen das die Ärzte. Sehr hinderlich beim Sprechen. Auch der Drogencocktail, der aus der Infusionsflasche unaufhörlich in deinen Arm sickert, ist nicht förderlich für die Verständlichkeit. Es hat ein wenig gedauert, bis ich auf Toyota, schwarzer Van gekommen bin.
Die Ärzte haben mir gesagt, dass sie dich wieder hinkriegen. Sie haben ein Team von kosmetischen Chirurgen aus Hamburg hinzugezogen, auch ein Kieferchirurg ist dabei. Du warst sehr lange im OP. Mehr Sorgen als dein Gesicht macht ihnen die Unterkühlung.
Jetzt sitze ich an deinem Bett, starre auf deinen bandagierten Kopf und denke darüber nach, was sie dir angetan haben. Und dass ich vor sieben Jahren schon einmal an einem Bett gesessen habe, in dem ein Schwerverletzter lag, der mir alles bedeutet hat. Bei Leonid war der ganze Körper bandagiert, ich hatte keine Hoffnung mehr. Es war schlimmer bei ihm, viel schlimmer. Nur war es keine Absicht gewesen. Russischer Schlendrian, Korruption und die Profitgier der Oligarchie haben ihn getötet, und ich habe sie
Weitere Kostenlose Bücher