Moerderische Fracht
würde ich ihn gerne selbst.
Du bist völlig meschugge.
Ich weiß.
Siebenunddreißig
26. September
D
r. Griefahn behielt recht. Am siebten Tag nach der Visite wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen, und weil ich nicht die geringste Lust verspürte, nach München zurückzukehren, nahmen Elena und ich Meiners’ Einladung an und bezogen für eine Weile das Ferienhaus in Duhnen, während er mit Anna in Warnemünde blieb. Elena und ich hatten wegen des Hauses einen ganzen Abend herumgestritten, weil sie auf keinen Fall dorthin zurück wollte, wo Morisaittes Leute mich angegriffen hatten, ich wiederum wollte nicht in ein Hotel, und schließlich gab sie nach.
Ich schickte eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung über dreißig Tage an das Institut, die, bis auf einen besorgten Anruf von Max Althaus, kommentarlos akzeptiert wurde, und ich akzeptierte meinerseits, dass mich niemand zu vermissen schien.
Das Gehen wurde von Tag zu Tag besser, und die Schmerzen in der Brust beim Atmen und Lachen ließen nach. Doch schon bei geringfügigen Anstrengungen hatte ich rasende Kopfschmerzen, gegen die ich jede Menge Tabletten schluckte, und mir war klar, dass ich Gefahr lief, von den Schmerzmitteln abhängig zu werden. Wirklich besorgniserregend war die Tatsache, dass es mir egal war. Außer Elena war mir tatsächlich alles egal. Ich spürte eine Depression auf mich zurollen. Vergleichbar der dunklen Flut, die sich auf mich zubewegt hatte, als nur noch mein Kopf aus dem Wasser ragte. Ich fühlte mich ähnlich hilflos wie in dem Rollstuhl. Wenn ich mich hätte besser bewegen können, eine Chance gehabt hätte, durch Laufen oder wenigstens durch lange Strandspaziergänge die lähmende Angst und Traurigkeit auszuagieren, wäre es wahrscheinlich nicht so schlimm geworden. Aber in meinem Liegestuhl auf der Veranda des Ferienhauses, eingehüllt in eine warme Decke und mit meinen Gedanken allein, steuerte mein Verstand zügig auf ein sehr schwarzes Loch zu. Bei Gesprächen mit Elena ging es mir besser, doch ich musste häufig längere Pausen einlegen, weil mich das Reden anstrengte und mein Kiefer sich noch immer nicht richtig öffnen ließ. Dank des provisorischen Zahnersatzes hatte sich wenigstens meine Artikulation deutlich verbessert.
Während der ersten drei Tage im Ferienhaus waren wir von zahlreichen Reportern und Fotografen belagert worden, die von dem merkwürdigen Fall des Rollstuhlfahrers im Watt irgendwie Wind bekommen hatten. Die Cuxhavener Polizei hatte die ganze Angelegenheit so gut es ging heruntergespielt. In einer knapp gehaltenen Presseerklärung waren lediglich die unbestreitbaren Fakten zur Sprache gekommen: Bei einem Wattalarm wurde ein männlicher Tourist, der von unbekannten Tätern an einen Rollstuhl gefesselt und im Watt ausgesetzt worden war, in letzter Minute vor dem Ertrinken gerettet. Von den drei Tätern, die das Opfer beschrieben hatte, fehlte jede Spur, und eine Erklärung für den grausamen Tathergang gab es nicht.
Später waren dann, vermutlich durch die an der Rettung beteiligten Feuerwehrleute und Helfer, bizarre Einzelheiten durchgesickert, und das hatte die ganze Meute dazu veranlasst, sich vor Meiners’ Gartentor breitzumachen, aber mittlerweile war der Spuk vorbei.
Ich hörte von der Veranda aus, wie die Haustür aufgeschlossen wurde, Elena die Einkäufe in die Küche trug und dabei I Am Sailing von Rod Stewart sang. Ihr russischer Akzent gab dem englischen Text eine sehr spezielle Note.
»Ich bin wieder da!«, rief sie überflüssigerweise, und ich freute mich darüber. Dann brach der Gesang ab und ich hörte einen überraschten kleinen Ausruf auf Russisch, den ich nicht verstand. Wenige Augenblicke später kam sie hinaus auf die Veranda. Sie hatte ein Notebook dabei, das sie auf dem Gartentisch neben mir aufklappte. Sie drehte es so, dass ich den Bildschirm gut im Auge hatte, stellte die Rückenlehne meines Liegestuhls hoch und setzte sich neben mich.
»Und jetzt?«, fragte ich.
»Ich habe die Post mitgebracht!«
Elena förderte aus ihrer Jackentasche einen Stapel Briefe zutage.
»Was für mich dabei?«
»Für uns beide«, sagte sie, »etwas zum Anschauen!«
Sie schaltete das Notebook an, suchte aus dem Stapel einen festen braunen Umschlag heraus, der eine DVD enthielt, und schob diese ins Laufwerk des Notebooks.
»Was soll das Ganze?«
»Kranke Menschen müssen Geduld haben«, sagte Elena kühl.
Nun erschien auf dem Bildschirm das Gesicht eines bekannten Nachrichtensprechers.
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