Moerderische Kuesse
Morgen.
Sie begann schon fast zu glauben, dass sie einfach unsagbares Glück gehabt hatte. Rodrigo hatte die Nachricht von Salvatores Tod mehrere Tage lang zurückgehalten und erst nach Salvatores Begräbnis veröffentlicht. Dabei hatte er nichts von irgendwelchen Giften erwähnt, sondern bloß kundgetan, dass sein Vater nach kurzer Krankheit gestorben sei. War es möglich, dass er die entscheidenden Schlussfolgerungen noch gar nicht gezogen hatte?
Sie wagte nicht wirklich, Hoffnung zu schöpfen, denn sie konnte es sich nicht leisten, unvorsichtig zu werden. Bis sie ihren Job erledigt hatte, musste sie mit Querschüssen von allen Seiten rechnen. Und danach – ehrlich gesagt hatte sie nicht die leiseste Idee, was sie danach tun würde. Im Moment beschränkte sich ihr Ehrgeiz darauf, dieses Abenteuer zu überleben.
Sie hatte kein Internetcafe in der Nähe ihres Apartments ausgesucht, weil sie unmöglich wissen konnte, ob nicht alle Onlinerecherchen über Unternehmen aus dem Nervi‐Konzern automatisch registriert wurden. Stattdessen war sie mit der Metro ins Quartier Latin gefahren und von dort aus zu Fuß gegangen. Für genau dieses Internetcafe hatte sie sich unter anderem entschieden, weil sie noch nie dort gewesen war. Eine der wichtigsten Regeln beim Untertauchen war, nie einer festen Routine zu folgen, nie vorhersehbar zu handeln. Wer zu oft dorthin ging, wo er sich am wohlsten fühlte, wo ihm alles vertraut war, wurde umso schneller geschnappt.
Lily hatte viel Zeit in Paris verbracht, was wiederum bedeutete, dass es zahlreiche Plätze und Menschen gab, die sie von nun an meiden musste. Einen festen Wohnsitz hatte sie hier nie gehabt, sondern immer bei Freunden – meist Averill und Tina – oder in einer Pension gewohnt. Ein einziges Mal hatte sie probeweise für ein Jahr eine Wohnung in London gemietet, die sie aber wieder aufgegeben hatte, weil sie doppelt so lang auf Reisen wie zu Hause war und die Wohnung daher nur unnötig Geld kostete.
Ihr wichtigstes Einsatzgebiet war Europa gewesen, weshalb sie auch nicht allzu oft in die Vereinigten Staaten geflogen war.
Aber so sehr sie Europa auch liebte und so vertraut es ihr inzwischen auch war, sie hatte nie mit dem Gedanken gespielt, sich endgültig hier niederzulassen. Falls sie sich jemals ein Haus kaufen würde – ein dickes, fettes »falls« –, dann unbedingt in den USA.
Manchmal träumte sie davon, aus dem aktiven Geschäft auszusteigen, so wie es Averill und Tina getan hatten, um fortan ein stinknormales Leben mit einem stinknormalen Job zu führen, in einem stinklangweiligen Ort zu wohnen, Teil der Gemeinschaft zu werden, ihre Nachbarn kennen zu lernen, Verwandte zu besuchen und am Telefon zu plaudern. Wie hatte es nur so weit kommen können, dass sie inzwischen ein menschliches Leben genauso leicht ausblasen konnte, wie die meisten Mitmenschen ein lästiges Insekt zertraten, und dass sie, verflucht noch mal, Angst hatte, ihre eigene Mutter anzurufen?
Als sie damit angefangen hatte, war sie noch so jung gewesen, und beim ersten Mal war es ganz und gar nicht leicht gewesen
– sie hatte gezittert wie Espenlaub –, aber sie hatte den Job erledigt, und beim nächsten Mal war es schon leichter gegangen und beim übernächsten Mal noch leichter. Nach einer Weile hatte sie ihre Opfer gar nicht mehr als richtige Menschen betrachtet, und diese emotionale Abspaltung hatte ihr geholfen, ihre Einsätze erledigen zu können. Vielleicht war sie naiv gewesen, aber sie hatte sich einfach darauf verlassen, dass ihre Regierung sie nicht auf irgendwelche anständigen Menschen ansetzte; wenn sie daran gezweifelt hätte, hätte sie nicht mehr arbeiten können. Und trotzdem hatte sie sich in jemanden verwandelt, der ihr selbst unheimlich war – sie war eine Frau, die man eigentlich nicht auf die Gesellschaft loslassen durfte.
Sie hegte immer noch den Traum, sich irgendwann zur Ruhe zu setzen und dann tatsächlich zur Ruhe zu kommen, aber inzwischen hatte ihn Lily als genau das erkannt – als einen Traum, der sich wahrscheinlich niemals erfüllen würde. Selbst wenn sie lebend aus diesem Schlamassel herauskommen sollte, schien ihre Vorstellung von einem normalen Leben ausschließlich normalen Menschen vorbehalten, und Lily fürchtete, dass sie schon lange kein normaler Mensch mehr war.
Dafür tötete sie zu leicht, zu instinktiv. Was würde passieren, wenn sie Tag für Tag gegen die immer gleichen Frustrationen ankämpfen musste, wenn sie sich mit einem fiesen
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