Moerderische Kuesse
das Leben selbst, mit ihr zum Skilaufen in die Alpen gefahren. Lily selbst lief nicht Ski, weil ein unglücklicher Sturz sie monatelang aus dem Verkehr ziehen konnte, aber ihre Freunde waren seit ihrem Rückzug aus dem aktiven Geschäft ganz wild aufs Skifahren.
Wie eine Folge von Ansichtskarten blitzten die Erinnerungen in ihrem Kopf auf: Zia als bezaubernde pausbäckige Dreijährige im knallroten Schneeanzug, wie sie einen winzigen und extrem windschiefen Schneemann zusammenbaute. Das war auf ihrer ersten Reise in die Alpen gewesen. Zia auf dem Kleinkinderhügel, laut jubilierend:
»Schaut mal! Schaut mal!« Tina laut lachend nach einem Kopfsturz in einen Schneehügel, von Kopf bis Fuß überpudert wie der sagenhafte Yeti. Sie zu dritt mit einem Drink vor dem prasselnden Kaminfeuer, während Zia ein Stockwerk höher schlief. Zia mit breiter Zahnlücke, Zia an ihrem ersten Schultag, Zia auf ihrer ersten Tanzvorführung, und dann, nicht mehr ganz Kind, aber noch längst nicht erwachsen, nach ihrer ersten Periode letztes Jahr, immerzu mit ihren Haaren beschäftigt und darauf brennend, endlich, endlich Mascara auftragen zu dürfen.
Lily schloss kurz die Augen; sie zitterte vor Schmerz und Wut. Wie so oft, seit sie erfahren hatte, dass ihre Freunde tot waren, fühlte sie sich von Gott und aller Welt verlassen. Seither konnte sie die Sonne zwar noch sehen, aber nicht mehr spüren, so als könnte die Wärme nicht mehr zu ihr durchdringen.
Salvatore umzubringen hatte ihr zwar eine gewisse Befriedigung verschafft, aber es reichte nicht aus, um die Sonne zurück in ihr Leben zu holen.
Sie blieb vor dem Haus stehen, in dem ihre Freunde gewohnt hatten. Inzwischen lebten dort Fremde. Ob die neuen Bewohner wohl wussten, dass dort vor wenigen Monaten drei Menschen ermordet worden waren? Sie fühlte sich irgendwie überrumpelt, denn eigentlich hätte alles so bleiben müssen wie vor dem Mord, und niemand hätte irgendwas an diesem Haus verändern dürfen.
Als sie damals gleich nach ihrer Rückkehr nach Paris erfahren hatte, dass man die drei ermordet hatte, hatte sie ein paar Fotos, ein paar von Zias Spielen und Büchern, ein paar Spielsachen und das von ihr angefangene und von Tina liebevoll weitergeführte Babyalbum an sich genommen.
Natürlich war das Haus abgesperrt und versiegelt gewesen, aber das hatte sie nicht aufhalten können. Zum einen besaß sie einen eigenen Hausschlüssel. Zum anderen hätte sie nötigenfalls das Dach mit bloßen Händen abgedeckt, um ins Haus zu gelangen. Aber was war mit dem Rest der Sachen geschehen? Wo waren die Kleider, die persönlichen Sachen, die Skiausrüstungen geblieben? Nach jenem ersten Tag war sie wochenlang rund um die Uhr damit beschäftigt gewesen herauszufinden, wer ihre Freunde umgebracht hatte, und einen Racheplan auszuarbeiten; als sie wieder zurückgekehrt war, war das Haus bereits ausgeräumt.
Averill und Tina hatten zwar entfernte Verwandte, vor allem Cousins und Cousinen, aber keine nahen Angehörigen.
Vielleicht hatten die Behörden ihre Verwandten benachrichtigt, die daraufhin alles zusammengepackt und weggebracht hatten.
Lily hoffte es. Es war in Ordnung, wenn irgendein Verwandter ihre Sachen bekam, während ihr die Vorstellung, dass ein Entrümpelungsdienst ihre Habseligkeiten eingepackt und auf den Müll gebracht hatte, unerträglich war.
Lily begann, die Häuser abzugehen, mit den Nachbarn zu reden und nachzufragen, ob irgendjemandem in der Woche vor der Tat ein ungewöhnlicher Besucher bei ihren Freunden aufgefallen sei. Sie hatte schon einmal Nachforschungen angestellt, aber damals hatte sie noch nicht gewusst, wonach sie fragen musste. Natürlich kannten die Menschen sie, schließlich war sie jahrelang immer wieder zu Besuch gekommen, hatte die Nachbarn gegrüßt und ein wenig mit ihnen geplaudert. Tina war kontaktfreudig gewesen, Averill eher zurückhaltend, aber Zia hatte keinerlei Scheu gekannt. Sie war mit allen Nachbarn vertraut.
Dennoch war nur einer Nachbarin etwas aufgefallen: Mme.
Bonnet, die zwei Häuser weiter wohnte. Sie war Mitte achtzig, alt und verknittert und saß beim Stricken – also praktisch rund um die Uhr – am liebsten am Fenster, von wo aus sie die ganze Straße im Auge hatte.
»Aber ich habe das doch schon alles der Polizei erzählt«, quengelte sie ungeduldig, als sie die Tür geöffnet und sich Lilys Frage angehört hatte. »Nein, in der Nacht, als sie umgebracht wurden, habe ich niemanden gesehen. Ich bin schon alt; ich
Weitere Kostenlose Bücher