Moerderische Kuesse
der nahenden Winterkälte alle Blätter abgeworfen hatten und die Zweige im frischen Wind wie Knochen gegeneinander klapperten.
Sie fühlte sich heute deutlich besser, schon beinahe normal.
Ihre Beine hatten den schnellen Marsch vom Bahnhof hierher klaglos mitgemacht, und sie war auch nicht außer Atem.
Morgen, nahm sie sich vor, würde sie es mit einem langsamen Dauerlauf probieren, aber heute gab sie sich noch mit Walking zufrieden.
Sie kehrte kurz in einer Bäckerei ein, wo sie einen Becher mit starkem schwarzem Cafe und ein Croissant mit buttriger, flockiger Kruste kaufte, das sofort nach dem Abbeißen in ihrem Mund zu zerschmelzen schien. Der Park lag nur fünfzig Meter weiter, darum spazierte sie hinüber und suchte sich eine Bank in der Sonne aus, wo sie sich dem sündig süßen Genuss ihres Croissants und ihrem Kaffee hingab. Als sie aufgegessen hatte, leckte sie ihre Finger ab, holte ein dünnes Notizheft aus ihrer Tasche, schlug es in ihrem Schoß auf und beugte sich darüber.
Sie gab vor, ganz in ihre Lektüre versunken zu sein, aber in Wahrheit waren ihre Augen ständig in Bewegung und schickten ihre Blicke hierhin und dorthin, bis sie alle Parkbesucher und ihre Umgebung registriert hatte.
Im Park hielt sich eine Hand voll Menschen auf; eine junge Mutter mit einem aufgeweckten Kleinkind, ein älterer Herr, der einen älteren Hund spazieren führte. Ein zweiter Mann saß allein auf seiner Bank, trank Kaffee und sah hin und wieder auf seine Uhr, als würde er, schon leicht genervt, auf jemanden warten.
Zwischen
den
Bäumen
schlenderten
einige
Spaziergänger umher: ein junges, Händchen haltendes Paar, zwei junge Männer, die im Gehen einen Fußball hin‐ und herkickten, und ein paar Leute, die einfach den sonnigen Tag genossen.
Lily holte einen Stift aus ihrer Tasche und skizzierte den Grundriss des Parks, wobei sie sämtliche Bänke, Bäume, Sträucher, die Betonmülleimer und den kleinen Brunnen in der Mitte einzeichnete. Dann schlug sie eine neue Seite auf und wiederholte das Ganze mit dem Laborkomplex. Diesmal skizzierte sie, wo sich die Türen und Fenster in Bezug auf die Einfahrten befanden. Sie würde eine solche Skizze von allen vier Seiten des Komplexes brauchen. Heute Nachmittag würde sie erst einmal ein Motorrad mieten und abwarten, bis Dr.
Giordano herauskam, vorausgesetzt, er war überhaupt hier –
sie hatte keine Ahnung, wann er gewöhnlich arbeitete. Sie würde einfach darauf hoffen, dass er die gleichen Arbeitszeiten hatte wie jeder andere auch, und dann würde sie ihm nach Hause folgen. Ganz einfach. Eine Adresse ließ sich auch auf altmodische Art herausfinden, Telefongeheimnummer hin oder her.
Sie wusste genauso wenig, ob er bei seiner Familie wohnte oder ob er überhaupt eine Familie hatte. Er war das Ass, das sie für alle Fälle im Ärmel haben wollte. Er wusste genau, wie das Labor gesichert war, und er hatte als Direktor Zugriff auf jeden Bereich des Sicherheitssystems; sie wusste nur nicht, wie leicht er seine Informationen preisgeben würde. Außerdem war es ihr lieber, wenn sie ohne ihn zurechtkam, denn sobald sie ihn in ihre Gewalt gebracht hatte, würde sie zuschlagen müssen, bevor irgendjemand mitbekam, dass Dr. Giordano vom Mikroskopträger verschwunden war. Darum wollte sie versuchen, die Sicherheitsmaßnahmen im Gebäude auf eigene Faust herauszufinden und ohne Dr. Giordanos Hilfe in sein Labor zu gelangen. Aber für den Fall der Fälle wollte sie so bald wie möglich wissen, wo er wohnte.
Lily war bewusst, dass sie in dieser Hinsicht Schwächen hatte. Bisher hatte sie sich nur mit den einfachsten Sicherheitssystemen herumschlagen müssen. Sie war auf einem einzigen Gebiet Expertin – darin, sich in ihre Zielperson hineinzuversetzen und ihr so nahe zu kommen, dass sie ihre Mission erfolgreich abschließen konnte. Je mehr sie über ihr Vorhaben nachdachte, desto klarer wurde ihr, wie ungleich die Chancen verteilt waren, aber das änderte nichts an ihrer Entschlossenheit. Hundertprozentige Sicherheit gab es nicht; irgendjemand wusste immer, wie man ein System umgehen konnte. Diesen einen Menschen würde sie aufspüren, oder sie musste sich eben selbst schlau machen.
Die beiden jungen Männer spielten nicht mehr Fußball.
Stattdessen sprach einer der beiden in ein Handy und schaute dabei erst in eine Zeitung und dann auf sie.
Sofort war sie hellwach. Scheinbar zerstreut ließ sie das Notizbuch und den Stift in ihre Tasche zurückgleiten und tat so, als
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