Moerderische Kuesse
Sie hätte nur einen Ton zu sagen brauchen, und er hätte sie sofort ins Bristol abgeschleppt.
Ihm stand genau vor Augen, wie sie ausgesehen und was sie getragen hatte: eine dunkelgraue Hose mit schwarzen Stiefeln, eine blaue Bluse aus feinem Leinen und darüber eine dunkelblaue Pijacke. Nebenbei sollte er in seinem Gedächtnis einspeichern, dass sie bewaffnet war, wenn sie diese Stiefel trug. Ihr Haar war schlicht geschnitten und knapp schulterlang, sodass es ihr Gesicht mit langen Strähnen umrahmte. Obwohl die Pijacke ihre Figur verborgen hatte, schloss er aus der Länge und Form ihrer Beine, dass sie eher schlank war. Außerdem hatte sie ein wenig angegriffen gewirkt, vor allem wegen der bläulichen Schatten unter den Augen, so als wäre sie krank gewesen oder hätte zu wenig Schlaf bekommen.
Dass er scharf auf sie war, machte seinen Job nicht eben einfacher; im Gegenteil, bei dem Gedanken daran, was er tun musste, wurde ihm ein wenig übel. Dann würde er die Regeln eben ein bisschen zurechtbiegen müssen, aber er würde sie nicht brechen. Jedenfalls nicht so weit, dass es auffiel. Er würde den Job erst dann beenden, wenn er es für richtig hielt, und wenn er dabei ein paar Umwege einschlagen musste, war das nicht zu ändern. Es konnte nicht schaden, wenn er erst einmal herausfand, wieso die Joubrans ermordet worden waren, wer sie angeheuert hatte und warum. Die Nervis waren nichts als Abschaum, und wenn er bei diesem Job ein paar ihrer üblen Machenschaften aufdecken konnte, war dagegen bestimmt nichts einzuwenden.
Außerdem konnte er sich auf diese Weise ein wenig Zeit mit Lily erkaufen. Zu schade, dass er sie zuletzt doch betrügen musste.
14
»Es hat gestern Ärger gegeben«, sagte Damone leise von der Tür zur Bibliothek aus. »Erzähl mir, was los ist.«
»Du solltest nicht hier sein«, erwiderte Rodrigo und stand auf, um seinen Bruder zu begrüßen. Er hatte seinen Ohren nicht getraut, als die Posten am Tor angerufen und Damones Ankunft gemeldet hatten. Eigentlich hatte er mit Damone vereinbart, dass sie sich nicht mehr treffen sollten, bis der Mörder ihres Vaters aus dem Verkehr gezogen war. Die Erkenntnis, dass Liliane Mansfield alias Denise Morel Salvatore umgebracht hatte, um den Tod ihrer Freunde zu rächen, änderte nichts an dieser Vereinbarung. Rodrigo hatte seinem Bruder lediglich ihren Namen mitgeteilt und ansonsten keine Informationen weitergegeben, außer dass sie nach ihr suchten.
Damone war kein Weichling, trotzdem hatte Rodrigo immer das Gefühl gehabt, seinen jüngeren Bruder beschützen zu müssen, erstens, weil er jünger war, und zweitens, weil Damone im Unterschied zu Rodrigo nie mit ihrem Vater an vorderster Front gekämpft hatte. Rodrigo kannte sich aus in großstädtischer und wirtschaftlicher Kriegsführung, während sich Damone auf die Aktienmärkte und Fonds verlegt hatte.
»Du hast niemanden, der dir hilft, so wie du Papa geholfen hast«, erwiderte Damone und ließ sich in jenem Sessel nieder, in dem Rodrigo immer gesessen hatte, als Salvatore noch gelebt hatte. »Es ist nicht richtig, dass ich nur die Finanzmärkte studiere und Gelder von hier nach dort verschiebe, während du allein die Verantwortung für unsere Geschäfte tragen musst.« Er breitete die Hände aus. »Außerdem erreichen mich Neuigkeiten aus dem Internet und den Zeitungen. Heute früh habe ich zum Beispiel einen Artikel gelesen, der leider nicht sehr informativ war, aber in dem über einen Vorfall berichtet wurde, der sich gestern in einem Park zugetragen haben soll.
Angeblich haben sich dort mehrere Personen einen Schusswechsel geliefert. Keiner der Beteiligten wurde identifiziert, abgesehen von zwei Wachmännern aus einem nahen Laborkomplex, die die Schüsse gehört hatten und zu Hilfe geeilt waren.« Seine klugen Augen wurden düster. »Der Name des Parks wurde auch genannt.«
Rodrigo sah ihn nachdenklich an. »Aber weshalb bist du hergekommen? Der Vorfall hat sich erledigt.«
»Weil es schon der zweite Vorfall rund um Vincenzos Labor ist. Soll ich das etwa für Zufall halten? Wir sind auf die zusätzlichen Profite durch das Impfserum angewiesen. Es bestehen
mehrere
Investitionsmöglichkeiten,
die
uns
verschlossen bleiben, wenn wir nicht die nötigen Mittel aufbringen. Ich will wissen, was sich hier abspielt.«
»Und ein Anruf hätte nicht genügt?«
»Am Telefon kann ich dein Gesicht nicht sehen.« Damone lächelte. »Du bist ein begnadeter Lügner, aber ich kenne dich zu gut. Ich habe
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