Mörderische Tage
vierzig.Er hatte die Kindheit und frühe Jugend in einem katholischen Waisenhaus verbracht, er war beinahe täglich misshandelt und ab seinem zehnten Lebensjahr auch missbraucht worden. Keine seiner späteren Beziehungen hatte längerals ein Jahr gehalten, weil er nicht fähig gewesen war, Liebe zu zeigen oder anzunehmen. Er gehörte zu Alina Cornelius' schwersten Fällen, ein ungemein freundlicher und distinguierter Mann, in dem eine zerrissene Persönlichkeit wohnte. Anfangs war es ihm schwergefallen, sich zu öffnen, er hatte von Depressionen und Angstzuständen gesprochen und sämtliche Symptome geschildert. Doch nach und nach war die volle Wahrheit ans Licht gekommen, der Auslöser für seine Depressionen und Ängste, und ein schrecklicher Abgrund hatte sich aufgetan. Als er zum ersten Mal von seiner Kindheit und Jugend sprach, wusste sie, dass er endlich Vertrauen gefasst hatte und bereit war, den Müll der Vergangenheit zu entsorgen.
Johann Jung war zum Glück ein vergleichsweise normaler Patient. Sie würde ihm helfen, seine Probleme in den Griff zu bekommen, und er würde sie im Gegenzug fürstlich dafür in lohnen – wie vor wenigen Minuten.
Um Viertel vor sieben verließ sie die Praxis, um sich einen gemütlichen Abend zu machen. Lesen, Musik hören und nicht zu spät ins Bett gehen. Vorher noch bei ihrem Lieblingsitaliener einkehren und einen großen Salat und ein Steak ohne Beilage essen und ein Glas Wein trinken.
Alina Cornelius wusste ihr Leben zu genießen. Eigentlich hatte sie nie vorgehabt, in Frankfurt eine Praxis zu eröffnen, sie wollte lieber in ihre Heimatstadt Lüneburg zurückkehren doch eine innere Stimme hatte ihr geraten, hierzubleiben, denn Lüneburg war Provinz, und Ärzte und Therapeuten gab es dort zuhauf. Sie war dankbar, auf diese innere Stimme gehört zu haben. Sie war frei, verdiente gut und wusste, es würde vorläufig so bleiben, denn die Zahl der Menschen mit psychischen und emotionalen Störungen nahm überproportional zu. So zynisch es auch klang, aber das Leid der anderen war das Glück von Alina Cornelius.
Dienstag, 0.45 Uhr
Franziska Uhlig verbrachte den Abend mit ihrer besten Freundin in einem griechischen Restaurant in der Frankfurter Innenstadt. Mindestens einmal im Monat trafen sie sich hier, wo die Inhaber sie kannten, wo sie freundlich und zuvorkommend bedient wurden und wo eine beinahe intime Atmosphäre herrschte, selbst wenn alle Tische besetzt waren. Leise Musik lief im Hintergrund, das Licht war gedämpft.
Kurz vor Mitternacht sagte Franziska Uhlig, nachdem sie mehrfach auf die Uhr geblickt hatte, dass es Zeit sei, nach Hause zu fahren, da sie am nächsten Morgen wegen einer wichtigen Besprechung spätestens um neun im Verlag sein müsse.
Sie wechselten sich mit dem Begleichen der Rechnung ab, diesmal war Franziska Uhlig dran. Sie gab wie immer ein großzügiges Trinkgeld, nahm ihre Tasche und ging mit ihrer Freundin zum Parkhaus Hauptwache, wo sie sich noch einmal umarmten, bevor ihre Wege sich trennten und sie in ihre Autos stiegen.
Um Viertel vor eins erreichte Franziska Uhlig ihre Wohnung in der Linkstraße in Frankfurt-Griesheim und wollte gerade auf die Haustür zugehen, als ein Mann wie aus dem Nichts vor ihr auftauchte und sie auf der ansonsten menschenleeren Straße ansprach.
Sie erschrak, wollte sich dies aber nicht anmerken lassen, auch wenn ihr Herz raste, weil sie das Gesicht des Mannes nicht erkennen konnte.
»Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich habe nur eine Frage, ich suche die Straße Am Brennhaus und habe keine Ahnung, wie …«
»Sind Sie zu Fuß oder mit dem Auto?«, fragte sie und versuchte erneut, einen Blick in sein Gesicht zu werfen, doch alles, was sie sah, war ein dunkler Schatten. Der Fremde trug einen hellen Sommeranzug und ein Hemd mit Krawatte. Sie meinte, ihn von irgendwoher zu kennen, doch sie konnte im Moment nicht sagen, woher. Nein, dachte sie, da habe ich mich wohl getäuscht.
»Ich stehe gleich dort vorne und habe zufällig gesehen, wie Sie gerade eben gekommen sind. Sagen Sie, kennen wir uns nicht?«, fragte er, und zum ersten Mal sah sie sein Gesicht, das von einem dunklen Bart bedeckt wurde, dazu kam eine dicke Hornbrille.
»Ich glaube nicht«, antwortete sie, streckte die Hand aus und fuhr fort, die Augen geradeaus gerichtet: »Sie müssen bis zur Kreuzung fahren, dann links und …«
Sie spürte nur einen leichten Einstich, und plötzlich drehte sich alles um sie. Sie hatte
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