Mörderische Tage
nicht einmal mehr die Kraft zu schreien oder sich zu wehren.
»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte er kaum hörbar und vergewisserte sich, dass auch niemand in der Nähe war.
Ihr Schlüsselbund war auf den Bürgersteig gefallen, der Fremde hob ihn auf. Er packte sie unter den Achseln und führte sie zur Beifahrertür seines Wagens, setzte sie hinein und schnallte sie an. Sie bekam alles mit, war aber unfähig, sich zu bewegen oder etwas zu sagen. Sie hörte, wie der Motor gestartet wurde und sie langsam die Straße entlangfuhren. Sie kannte die Gegend wie ihre Handtasche, wie sie immer scherzhaft zu sagen pflegte. Sie registrierte noch, wie sie Griesheim verließen und auf die Autobahn fuhren. Bei Eschborn bogen sie ab, an einer dunklen Stelle drückte er einen mit Chloroform getränkten Wattebausch gegen ihre Nase, und sie wurde bewusstlos.
Als Franziska Uhlig aufwachte, lag sie auf einer Pritsche in einem kleinen Raum, doch sie konnte im ersten Moment kaum etwas erkennen, nahm alles nur verschwommen wahr. Ihr Mund und ihr Hals waren wie ausgetrocknet, ihr Herz raste, als wollte es den Brustkorb sprengen. Als sie merkte, dass sie nackt war, weiteten sich ihre Augen vor Angst.
Sie drehte leicht den Kopf, bewegte Hände, Arme und Beine. Die Lähmung, die so plötzlich und unerwartet eingetreten war, war verschwunden. Es dauerte mehrere Minuten, bis sie vollständig zu sich kam und begriff, dass dies kein Traum war. Eine matte Birne spendete schwaches Licht, doch Franziska konnte außer der Liege nur noch einen Stuhl und einen quadratischen Tisch erkennen. Nicht einmal ein Fenster. Ihr war kalt, sie wollte aufstehen, doch noch immer war ihr schwindlig, dazu kam eine leichte Übelkeit. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie einen weiteren Versuch unternahm, sich von der Liege zu erheben. Diesmal gelang es ihr. Vorsichtig setzte sie ihre Füße auf den Boden. Mit einem Mal schrie sie, doch sie hörte nichts als ihre eigene Stimme, die nach endlosen Minuten des Schreiens nur noch ein heiseres Krächzen war.
Sie trommelte mit den Fäusten gegen die verschlossene Tür, bis sie entkräftet zu Boden sank und leise vor sich hin wimmerte. Dennoch versuchte sie Ruhe zu bewahren und sich zu erinnern. Da war der freundliche Mann, namenlos und scheinbar ohne Gesicht, der sie nach dem Weg gefragt hatte, dann dieser Stich in den Hals, die darauf einsetzende Lähmung Ihres Körpers, während ihr Bewusstsein alles um sie herum wahrnahm. Und sie erinnerte sich, wie sie auf die A66 fuhren und die Ausfahrt Eschborn nahmen. Ab da war ihre Erinnerung wie ausgelöscht.
»Was wollen Sie von mir? Was, was, was? Ich will noch nicht sterben,ich will noch nicht sterben!« Tränen der Verzweiflungliefen ihr über das Gesicht, sie kauerte in der Ecke nebender Tür, die Beine angezogen, den Kopf auf den Knien, die Arme um die Unterschenkel geschlungen, als könnte sie sich damit vor dem Unheimlichen, dem Unbegreiflichen, das sie so sehr ängstigte, schützen.
Sie wusste nicht, wie lange sie wimmernd auf dem Boden gekauert hatte. Jegliches Zeitgefühl war verlorengegangen, als sie hörte, wie der Schlüssel umgedreht und die Tür geöffnet wurde. Ein großer Mann stand vor ihr und blickte auf das zitternde Bündel Mensch herab.
»Ausgeschlafen?«, fragte er mit emotionsloser Stimme.
Keine Antwort.
»Ich hab dich was gefragt.«
»Was wollen Sie von mir?« Franziska Uhlig sprach leise und sah ihn verzweifelt und mit verweinten Augen an, gleichzeitig versuchte sie herauszufinden, ob es sich um den Mann handelte, der sie vor ihrer Haustür nach dem Weg gefragt hatte. Sie war sich nicht sicher, da sie ihn nur in Umrissen wahrnahm und seine Stimme irgendwie anders klang.
»Das erfährst du noch früh genug. Warum sitzt du auf dem kalten Boden? An deiner Stelle würde ich mich hinlegen, sonst erkältest du dich noch«, sagte er beinahe fürsorglich.
»Wenn Sie Geld wollen, ich habe keins. Meine Eltern auch nicht.«
»Geld interessiert mich nicht, Franziska. Oder nennen sie dich Franzi? Ich schlage vor, ich nenn dich Franzi, das klingt sovertraut, und ich möchte, dass wir ein Vertrauensverhältnisaufbauen. Bist du damit einverstanden?«
Sie nickte nur, zu mehr war sie nicht fähig, denn die Angst hielt sie mit stählernen Klauen umklammert, während ihr erneut die Tränen über das Gesicht liefen.
»Gut. Und jetzt steh auf und setz dich auf den Stuhl. Und hör auf zu heulen, damit änderst du nichts. Du wirst dich bald an die neue
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