Mörderische Tage
den ich so nicht mehr lange aushalte.«
Alina Cornelius machte sich Notizen und ließ einen Augenblick verstreichen, bevor sie sagte: »Was tun Sie dagegen?«
»Nichts. Was soll ich schon tun?«, fragte er hilflos.
»Was ist mit Alkohol oder Tabletten?«
Jung zögerte einen Moment und antwortete: »Wenn ich etwas getrunken habe, geht es mir besser. Ich weiß, das ist keine Lösung, aber …« Er vollendete den Satz nicht.
»Sie haben recht, das ist keine Lösung. Wenn Sie trinken, was und wie viel trinken Sie dann?«
»Whiskey.«
»Und wie viel? Ein Glas oder mehr? Und ich bitte Sie, ehrlich zu sein, nichts von dem, was Sie mir erzählen, verlässt diesen Raum, darauf können Sie sich verlassen. Ich muss alles wissen, um die Behandlung so effizient wie möglich gestalten zu können.«
»Gestern war es fast eine Flasche … Na gut, es war eine Flasche.«
Alina Cornelius notierte es und sagte ruhig: »Und sonstige Mittel? Valium, Rohypnol …«
Jung machte eine abwehrende Handbewegung. »Nein, nein, nein, nichts sonst.«
»Wie oft haben Sie in den vergangenen Wochen eine Flasche Whiskey am Tag getrunken?«
»Mehrfach, aber es hat nicht sonderlich geholfen. Dafür konnte ich wenigstens schlafen.«
»Wie fühlen Sie sich jetzt?«
Er lachte kehlig auf und meinte: »Beschissen, absolut beschissen. Entschuldigen Sie diesen Ausdruck, aber ich könnte kotzen, wenn ich in den Spiegel schaue und den Schwächling darin sehe. Ich fühle mich wie ein großer Versager. Ich habe Geld wie Heu, ich besitze mehrere Häuser, ich kann mir alles leisten, aber die Angst, die Selbstzweifel und dieser ganze Mist in mir drin machen mir einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. Ich habe manchmal das Gefühl, nicht ich selbst zu sein, wenn Sie verstehen, was ich meine. Na ja, ich sehe mich und doch jemand anderen. Jemanden, den ich am liebsten umbringen würde.«
»Haben Sie Suizidgedanken?«
»Quatsch, nein. So habe ich das nicht gemeint. Ich liebe das Leben, aber ich liebe nicht das, was mein Alter Ego mit mir macht. Ich würde nie Hand an mich legen. Ich habe viel zu viel Angst vor dem Tod. Es ist nur so, ich fühle mich so oft wie in einem Hamsterrad. Ich will vorwärtskommen und trete doch auf der Stelle. Das ist der eigentliche Grund, weshalb ich zu Ihnen gekommen bin.«
»Haben Sie heute etwas getrunken?«, fragte Alina Cornelius.
»Nein. Ich trinke nur abends.«
»Haben Sie schon getrunken, als Ihre Frau noch bei Ihnen war?«
»Nur hin und wieder ein Glas Wein oder einen Whiskey am Abend. Aber nie exzessiv, falls Sie denken, dass sie mich deswegen verlassen haben könnte. Nein, ich bin kein Alkoholiker, und ich werde es auch nie sein. Hoffe ich zumindest. Ich befinde mich im Augenblick nur in einem Ausnahmezustand. Es geht vorbei.«
»Ich muss Ihnen gleich sagen, dass die Therapie nur funktionieren kann, wenn Sie mit dem Trinken aufhören. Es bringt nichts, wenn wir gemeinsam versuchen, Ihr eigentliches Problem in den Griff zu bekommen, und Sie sich hinterher betrinken. Oder noch schlimmer, wenn Sie sich vorher Mut antrinken. Mit Alkohol lösen Sie keine Probleme, Sie fügen nur neue hinzu. Es ist eine Flucht vor der Realität, die niemals erfolgreich sein kann. Und Sie sollten auch an Ihre Kinder denken, die Sie jetzt mehr denn je brauchen.«
Jung kaute auf der Unterlippe und nickte. »Ich werde damit aufhören. Aber was tue ich, wenn die Angst wiederkehrt?«
»Welche Angst? Sie haben bisher nur von Depressionen und dem schwarzen Loch gesprochen, aber nicht von Angst. Wie äußert sich diese Angst?«
»Zittern, Übelkeit, alle möglichen Symptome. Diese verfluchte Angst kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel.«
»Warum haben Sie das nicht schon beim letzten Mal er-
wähnt? Das ist wichtig.«
»Welcher Mann spricht schon gerne über - Angst. Angst ist was für Memmen, Feiglinge.« Er vergrub den Kopf in den Händen und schloss die Augen. »Es fällt mir nicht leicht, über so etwas zu sprechen. Diese beschissene, verfluchte Angst!«, sagte er und ballte die Fäuste. »Hätte mir einer vor ein paar Monaten gesagt, dass ich eines Tages Angstzustände haben würde, ich hätte denjenigen ausgelacht. Jeder, aber nicht ich, nicht Johann Jung. Ich komme damit nicht klar.«
»Herr Jung, das hat nichts mit Feigheit zu tun. Es kann jeden treffen, in jedem Alter. Haben Sie schon einen Arzt konsultiert, der Ihnen etwas gegen die Angst und die Depressionen verschreiben könnte?«
»Nein, Sie sind überhaupt die Erste,
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