Mörderische Tage
Finger zehn Frauen haben könnte. Aber du wolltest unbedingt mich. Manchmal frage ich mich, warum. Und nun geh, ich muss auch gleich arbeiten.«
Er strich ihr durch das noch leicht feuchte Haar, gab ihr einen letzten Kuss und fuhr zum ehemaligen Reiterhof. Er sah sich um, kein Mensch weit und breit. Das gesamte Areal war von einem undurchdringlichen Stacheldrahtzaun umgeben, hinter dem sich noch ein Elektrozaun befand, auf dem ein nicht zu übersehendes Schild warnte: »Betreten verboten, Eltern haften für ihre Kinder«. Er fuhr hinein, stellte den Wagen vor den Stallungen ab, ging ein paar Schritte, drückte die Büsche auseinander und begab sich zu der schweren Eisentür, schloss auf und tippte kurz darauf die Ziffernkombination ein, durch die sich die massive Stahltür öffnen ließ. Sobald er im Innern des Gewölbes war, schloss sie sich beinahe lautlos. Er ging die dreiundvierzig Stufen nach unten und sah nach den Frauen, wobei ihn besonders der Zustand von Karin Slomka interessierte. Sie lag nackt auf der Pritsche, die Augen ins Nichts gerichtet.
»Hallo«, sagte er und leuchtete ihr mit der Taschenlampe ins Gesicht. »Wie geht es dir?«
Keine Antwort. Etwas anderes hatte er auch nicht erwartet. Seit über drei Wochen hatte sie kein Wort mehr gesprochen, reagierte sie nicht mehr auf Ansprache, war sie weggetreten, als befände sie sich bereits in einer anderen Welt.
Er trat näher an sie heran, leuchtete in ihre Augen, die keine Reaktion zeigten. Karin Slomkas Brustkorb hob und senkte sich in gleichmäßigem Rhythmus, er fühlte ihren Puls, der schwach, aber ebenfalls gleichmäßig war. Die Vitalfunktionen waren in Ordnung. Noch. Sie hatte seit gestern Nacht zwei Gläser Wasser und eine Scheibe Brot zu sich genommen, eine instinktive Handlung, derer sie sich nicht bewusst gewesen war. Sie handelte wie ein Tier, das nicht überlegt, sondern sich von seinem Instinkt leiten lässt, das sich seine Beute holt, wenn es notwendig ist, denn es geht um nichts als ums Überleben.
Er hatte sich in den vergangenen Tagen, Wochen und Monaten Notizen um Notizen gemacht, alles akribisch auf seinem Notebook festgehalten und Sicherungskopien angefertigt, die er im Tresor seines Arbeitszimmers aufbewahrte.
Er traute Aleksandra, aber möglicherweise würde auch sie eines Tages die Neugier überkommen, und sie würde wissen wollen, was er denn in seinem Arbeitszimmer so machte. Sie würde womöglich in seinem Schreibtisch nachschauen, in seinen Papieren, seinen Unterlagen … Nein, er war die ganze Zeit über sehr vorsichtig mit seinen Aufzeichnungen gewesen und würde es auch weiterhin sein. Denn mit jeder Frau, die er freiließ, wuchs das Risiko, enttarnt zu werden. Noch war er sicher, noch tappte die Polizei im Dunkeln, und noch war er zu klug, als dass man ihm auf die Schliche kommen würde. Er hatte bis jetzt keinen Fehler gemacht, und so sollte es bleiben, bis er sein Werk vollendet hatte.
»Ich werde heute Nacht wiederkommen, und vielleicht bringe ich dich dann schon an einen anderen Ort. Mal sehen, wie du dich schlägst. Aber selbst wenn du überleben solltest, du wirst dich an nichts mehr erinnern können. Sie werden dir Fragen stellen, und du wirst keine Antworten darauf haben. Aber ich glaube kaum, dass du viel länger als deine liebe Vorgängerin Jacqueline überleben wirst. Tut mir leid, es ist eben ein Teil des Spiels. Manche sind nicht dazu bestimmt, lange zu leben. Deine Uhr ist abgelaufen«, sagte er und leuchtete ihr dabei die ganze Zeit ins Gesicht, wobei er besonderes Augenmerk auf eventuelle Regungen um den Mund und die Augen legte. Aber da war nichts, weder eine Erweiterung noch eine Verengung der Pupillen, nur ein lebloses Starren. »Gut, ich werde dich jetzt noch ein paar Stunden allein lassen und so gegen Mitternacht wiederkommen. Bis dann.«
Er machte die Tür hinter sich zu und begab sich zu Franziska Uhlig, die bei diffuser Beleuchtung am Tisch saß und eifrig schrieb, wie er es ihr befohlen hatte. Sie wandte ihren Kopf, als die Tür aufging und er wie ein Schatten vor ihr stand. Sie hatte bis jetzt sein Gesicht kaum gesehen, nur die Konturen seiner Statur, groß, schlank, vielleicht muskulös. Er hatte eine angenehme Stimme, die Brutalität und der abgrundtiefe Zynismus standen in eklatantem Widerspruch dazu.
»Ich sehe, du bist fleißig. Wie viele Seiten hast du schon beschrieben?«
»Ich weiß es nicht, aber es dürfte etwa die Hälfte sein.«
»Das ist gut, sehr gut. Dafür bekommst du
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