Mörderische Tage
Susanne hat schon recht, ich werde nicht jünger – und ich kann auch nicht die Welt retten. Eine Minute vor den Sechzehn-Uhr-Nachrichten hielten sie vor der Kirche in der Linkstraße in Griesheim. Eine ältere Frau zeigte ihnen das Pfarrhaus, sie gingen darauf zu und klingelten. Sie wollten sich bereits abwenden, als die Tür geöffnet wurde und ein vielleicht vierzigjähriger Mann mit Brille und Kinnbart vor ihnen stand. Sie stellten sich vor und baten ihn um ein kurzes Gespräch. Er bat sie herein, führte sie in sein Büro und machte die Tür hinter sich zu.
Mittwoch, 14.30 Uhr
Sie hatten vor einer Stunde zu Mittag gegessen und sich anschließend auf die sonnenüberflutete Terrasse gesetzt. Noch brannte die Sonne von einem beinahe wolkenlosen Himmel, doch bereits für morgen wurden ein markanter Temperaturabfall und kräftige Niederschläge prognostiziert.
Rahel erhob sich. »Jetzt muss ich ein bisschen was für meine Fitness tun. Kommst du mit, Liebling?«, fragte sie und wandte ihren Kopf in seine Richtung, auch wenn sie ihn nicht sah.
»Nicht jetzt, heute Abend vor dem Zubettgehen vielleicht. Ich habe noch zu tun. Aber ich schaue dir gerne noch einen Augenblick zu.«
»Du bist ein fauler Hund, weißt du das? Du solltest mehr Sport treiben, in deinem Alter setzt man recht schnell Speck an, und mit jedem Jahr wird es schwieriger, eine Wampe auch wieder wegzubekommen«, bemerkte sie spöttisch.
»Hab ich etwa eine?«, fragte er gelassen zurück, denn er war schlank und durchtrainiert. Er trieb viel Sport, und es ärgerte ihn, wenn sie in diesem Ton mit ihm sprach.
»Zum Glück noch nicht, aber …«
»Keine Sorge, Liebling, ich werde auf mich aufpassen«, antwortete er nun leicht ungehalten, und wenn er ihren Spott bisweilen auch mochte, er ihn sogar erregte, so gab es Momente, in denen er diesen spöttischen Unterton hasste. Dann hätte er Rahels Kopf nehmen und ihn so lange unter Wasser drucken mögen, bis sie nicht mehr atmete. Er konnte selbst nicht erklären, warum ihn dieser Spott manchmal so anmachte, dass er schier über sie herfiel und sie sich wie die Wahnsinnigen liebten, bis sie erschöpft und nach Luft japsend nebeneinanderlagen, und ihn genau dieser Spott an anderen Tagen aggressiv machte. Aber er war ein Spieler und ließ sich nicht anmerken, was in ihm in diesem nur Sekunden währenden Augenblick vorging.
In seinen Augen jedoch stand dann ein seltsames Funkeln, das jedem Sehenden einen Schauer über den Rücken gejagt hätte, doch außer ihm, Rahel und Aleksandra, die sich unsichtbar gemacht hatte und in der Küche hantierte, war niemand da. Sein Tonfall aber verriet nichts – das vollkommene Gegenteil des gefährlichen Aufblitzens in seinen Augen, beherrscht und beinahe sanft, gewürzt mit einer Prise Humor, denn er lachte und sagte: »Außerdem weißt du ganz genau, dass ich mich nicht gehen lasse. Und nun tu du etwas für deine edle Figur, nicht dass ich mich irgendwann nach einer anderen umschaue.«
»Das wirst du nie tun, Liebling, denn sich mit einer Rachegöttin anzulegen wäre auch für dich zu riskant. Bis gleich.«
Sie winkte ihm zu und ging mit wiegenden Schritten zum Pool, entledigte sich ihrer Kleidung und sprang in das dreiundzwanzig Grad warme Wasser. Er beobachtete sie, wie sie mit gleichmäßigen Bewegungen durch den Pool glitt, mal auf dem Rücken, mal kraulend. Sie schwamm perfekt, sie wusste genau, wie viele Züge es vom einen Ende zum anderen waren. Er hatte noch nie eine Frau kennengelernt, die ihm ebenbürtig war – bis er sie traf. Bereits beim ersten Aufeinandertreffen hatte er gespürt, dass sie etwas Besonderes war. Und er hatte recht behalten. Sie war die personifizierte Intelligenz, ihr IQ lag bei fast hundertsechzig, eine Seltenheit. Sie beherrschte sechs Sprachen und konnte sich in weiteren sieben verständigen, war ein naturwissenschaftliches Genie und verfügte über einen messerscharfen Verstand, mit dem sie selbst ihn manchmal in Erstaunen versetzte. Mit ihr zu diskutieren war eine Wonne und eine Herausforderung zugleich, denn sie war nicht nur belesen, sondern konnte auch blitzschnell Zusammenhänge herstellen, und sie hatte ein fotografisches Gedächtnis. Einmal gehört oder gesehen (früher, vor ihrem tragischen Unfall) oder gelesen und nie mehr vergessen.
Nur er selbst war noch einen Tick intelligenter, wie er meinte. Noch. Denn noch konnte er mit ihr über alles diskutieren, Literatur wie Kafka, Mann, Hesse, aber auch über
Weitere Kostenlose Bücher