Mörderische Tage
während die vermutliche Entführung von Karin Slomka und die ebenfalls noch nicht eindeutig bewiesene von Jacqueline Schweigert eine andere Handschrift aufwiesen. Doch bereits jetzt sprach man von einem besonders perfiden Täter, der den bis jetzt perfekten Mord begangen hatte. Und er würde es wieder tun, mehr noch, er schien ein Spiel mit der Polizei begonnen zu haben. Jemand, der überzeugt war, unbesiegbar zu sein und perfekt zu morden, litt entweder unter Größenwahn – oder er war tatsächlich perfekt. Die Kriminalpsychologen stuften den Täter als weit überdurchschnittlich intelligent ein, als einen Menschen, der sich seiner Fähigkeiten bewusst war, aber auch als jemanden, der im normalen Leben keine herausragende Rolle spielte. Man ging von dem unscheinbaren, netten Nachbarn von nebenan aus, dem man niemals ein Verbrechen zutrauen würde, schon gar keinen Mord. Der sich mit den anderen in seiner Straße gut verstand, liebevoll mit seiner Frau und den Kindern umging und sich nie das Geringste hatte zuschulden kommen lassen.
Aber hatte er überhaupt gemordet? Nichts deutete bei Jacqueline Schweigert auf äußere oder innere Gewalteinwirkung hin. Und wenn er ein Gift verwendet hatte, dann eines, das schon kurz nach der Verabreichung nicht mehr nachweisbar war. Solche Gifte gab es zur Genüge, wie Bock und Sievers erklärten.
Auf keine der unzähligen Fragen der Sonderkommission gab es eine zufriedenstellende Antwort. Alles basierte seit einem guten halben Jahr auf Vermutungen. Und es gab nichts, was eine ohnehin nicht sehr geduldige Julia Durant wütender machte, als über viele Monate hinweg auf der Stelle zu treten. Vier Vermisstenfälle, drei Tote und keine Erklärungen.
Die Presse – allen voran eine Boulevardzeitung – wurde immer fordernder, sie verlangte angeblich im Auftrag der Öffentlichkeit Ergebnisse. Einige Journalisten überboten sich an Dreistigkeit, und es schien, als warteten sie nur darauf, ihre Zelte im Präsidium aufschlagen zu können, um den erlösenden Moment der Festnahme des Mannes oder der Männer live mitzuerleben und gleich davon zu berichten. Doch seitens der Staatsanwaltschaft war eine umfassende Informationssperre verhängt worden, um die Ermittlungen nicht zu behindern.
Alle Mitglieder der seit dem Wochenende auf zwanzig Mann aufgestockten Soko schoben Überstunden um Überstunden, um am Ende jedes Tages ernüchtert festzustellen, dass man wieder einmal keine verwertbaren Ergebnisse vorzuweisen hatte.
Mit wem hatte Jacqueline Schweigert Kontakt gehabt, nachdem sie in Eddersheim aus der S-Bahn gestiegen war? Man wusste ja noch nicht einmal sicher, ob sie die Bahn dort verlassen hatte. Niemand hatte sie auf dem Bahnhof gesehen, niemand auf dem Weg zum Haus. Trotz mehrfacher Aufrufe über die Medien hatte sich bis jetzt auch niemand gemeldet, der die junge Frau in der S-Bahn gesehen hatte. Nichts deutete auf heimliche Kontakte hin, nichts auf eine heimliche Liebschaft, dazu war sie zu verantwortungsbewusst gewesen. Sie war eine ganz normale junge Frau, deren Konzentration allein ihrem Studium gegolten hatte. Kein Partner, nicht einmal eine kurzfristige Affäre. Der einzige feste Freund, den sie in ihrem kurzen Leben gehabt hatte, war ein junger Mann gewesen, mit dem sie aber bereits vor Beginn ihres Studiums Schluss gemacht hatte. Er lebte längst in einer neuen Beziehung, hatte eine kleine Tochter und seit drei Jahren keinen Kontakt mehr zu Jacqueline Schweigert gehabt.
Warum hatten ihre Organe versagt? Warum war sie im Nachthemd gewesen, als sie gefunden wurde? Was hatten der oder die Täter mit ihr gemacht? Unzählige Fragen und nicht eine Antwort.
Montag, 18. Juni, 10.00 Uhr
Am Tag nach Jacqueline Schweigerts Tod suchten Julia Du-rant und Frank Hellmer noch einmal die Eltern auf. Der Vater war wieder einigermaßen nüchtern, die Mutter hingegen schien kaum wahrzunehmen, was um sie herum vorging. Anfangs lief sie ziellos im Wohnzimmer herum und redete wirres Zeug, bis sie sich auf einmal in einen Sessel kauerte, keinen Laut mehr von sich gab und dumpf vor sich hin starrte. Offensichtlich stand sie unter starken Beruhigungsmitteln.
»Es tut uns leid, was mit Ihrer Tochter passiert ist. Wir hatten auch inständig gehofft, dass sie uns sagen könnte …«
Herr Schweigert schüttelte nur den Kopf und unterbrach Durant mit einer schnellen Handbewegung: »Wir haben gehofft und gehofft und gehofft. Sechs verdammte Monate lang haben wir nichts als gehofft. Und
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