Mörderisches Musical
umklammerte immer noch die
Lebensmitteltasche und ihre Handtasche. »Wir können sie da oben nicht allein
lassen«, sagte Rhoda. »Jemand muß bei ihr sitzen.«
»Nein. Das ist so in Ordnung.« Wetzon tätschelte
ihre Hand. »Wir können im Moment nichts für sie tun.« Sie dachte, daß
irgendeine böse Energie freigesetzt worden war, daß das, was durch den Mord an
Dilla losgelassen worden war, alle infiziert hatte. War es etwas, was Dilla
angestiftet hatte? Natürlich, so mußte es sein. Verdammt! Die Stücke wollten
sich schon zu einem Bilderpuzzle zusammenfügen, und dann wollte ein Stück nicht
passen. Etwas...
Novakovich telefonierte irgendwo, wo er nicht zu
sehen war. Dann tauchte er auf. »Ich sage besser allen, daß sie die Hintertüren
nicht aufmachen sollen.« Er verschwand wieder.
»Izz!« Rhoda sprang auf. »Wo ist der kleine
Hund?«
Wetzon schlug sich an die Stirn. Allmächtiger,
sie war nicht bei der Sache. Sie hatten Izz oben gelassen. Wo hatte sie sich
versteckt? Bitte, dachte Wetzon, nicht in Susans Nähe. Bitte laß sie
nicht bei Susan sein. »Bleiben Sie hier. Ich gehe nach oben und hole sie.
Ich glaube, ich weiß, wo sie ist.« Vor ihrem inneren Auge sah sie Izz neben
Susans Leiche sitzen. Ein Malteser als Ehrenwache.
Als sie mit dem Aufzug hinauffuhr, empfand sie
eine unaussprechliche Angst. Sie sah Bilder aus vergangenen Jahren wie am
Diaprojektor an sich vorbeiziehen: eine junge Susan Cohen, über den Tisch
gebeugt, ein Bein übergeschlagen. »Die Vierte zum Bridge« rief sie, als Wetzon
von einem Kurs ins Studentenheim zurückkam. Susan und Wetzon im Gras sitzend,
lernend, aber nicht... Wetzon, die Susan Probleme mit einem Freund anvertraute,
an dessen Namen sie sich nicht mehr erinnerte, und Susan, die sagte: »Sie sind
es nicht wert. Wir brauchen sie wirklich nicht, um glücklich zu sein.« Hatte
Susan versucht, ihr beizubringen, daß sie lesbisch war, und war Wetzon zu
begriffsstutzig — zu naiv — gewesen, um es zu kapieren?
Sie hatte Susans Angst nicht ernst genommen.
Vielleicht war der Mörder gar kein Einbrecher gewesen, sondern ihr Verfolger.
Vielleicht hatte es etwas mit Dillas Ermordung zu tun.
Wetzon schauderte. Warum hatte er — oder sie —
dann nicht Wetzon getötet?
Novakovich hatte die Tür zu Susans Wohnung
angelehnt gelassen, und Wetzon schlüpfte hinein. Allein das Chaos in den
Zimmern machte ihr angst. Beinahe als wäre es... vorsätzlich. War das nicht das
Wort, das Silvestri gebraucht hatte? Nein. Er hatte persönlich gesagt. Wonach hatte der Mörder gesucht? Und hatte er — oder sie — es gefunden?
Sie rief: »Izz?«
Die Wohnung war totenstill. Unten auf der Straße
tönte eine Hupe, weit weg, und dann eine Sirene. Wetzon schloß die Augen. Ihre
Lippen waren trocken und aufgesprungen. Sprich zu mir. Sag mir, was passiert
ist. Blaues Kanton, Scherben davon, lagen unter ihren Füßen. Sie
knirschten, als sie darüberging, wie der Kiesweg, der zum Haus ihrer Kindheit
führte.
»Izz?« Sie ging durch die Küche zum
Treppenabsatz, an dem offenen Mülleimer vorbei. Konnte man sich jemals an den
Geruch des Todes gewöhnen? Sie würde Silvestri fragen müssen.
Susan war eine kleine Ausbuchtung unter dem
limonengrünen Badetuch, und Izz war nicht da.
Wetzon ging wieder in die Wohnung, über den
Flur, am Arbeitszimmer vorbei ins Schlafzimmer. Keine Izz. Wo konnte sie
stecken? Das Arbeitszimmer. Hatte sie nicht im Vorbeigehen eine kleine Bewegung
gesehen?
»Izz!«
Die alte bemalte Wiege aus Kiefernholz
schaukelte, ganz wenig, verursachte kaum ein Geräusch auf dem Holzboden. Keine
menschliche Hand in Sicht.
Wetzon ging langsam hinein. Die Wiege
schaukelte.
Die lakritzfarbenen Augen waren stumpf vor
Angst. Sie warnten sie. »Izz. Komm da heraus. Mach schon, Baby.« Wetzon kniete
hin. Der kleine Hund entblößte die Zähne. Wetzon öffnete die Hand und hielt sie
dem Hund hin. Izz schnupperte vorsichtig, dann leckte sie Wetzons Hand.
Wetzon hob sie aus der Wiege. Papiere waren über
den Boden verstreut, Teile von Gedichten, vielleicht von Songtexten. Ein
Terminkalender. Sie klemmte den Hund unter den einen Arm und blätterte die
Seiten des Kalenders durch, suchte die letzten beiden Wochen. Sie sah ihren
eigenen Namen in Susans deutlicher, fast kindlicher Handschrift. Und jeden Tag
andere Namen. Als sie noch eine Seite umblätterte, sah sie das Datum dieses
Tages. Sie las ihren Namen und einen
anderen. Sie klappte den Kalender zu und vergrub
ihn unter den
Weitere Kostenlose Bücher