Mörderisches Musical
verletzt? Wo? Zeig es mir.«
Er hob sie hoch, trug sie, und sie spürte die
Schulterhalfter durch seine Freizeitjacke an ihrer Brust. Er brachte sie zu
Bett und deckte sie mit der Steppdecke und der Wolldecke in Rot, Weiß und Blau
zu, die sie und Carlos anläßlich der Zweihundertjahrfeier der Vereinigten
Staaten gehäkelt hatten, als sie zusammen in Bob Fosses Chicago auftraten. Das Zittern wollte nicht aufhören.
»Kalt«, stöhnte sie. »Schmerzen. Was ist los mit
mir?«
Er strich über ihr Haar und beugte sich über
sie. Seine Augen waren tief türkis, und sie versuchte, ihm für sein Kommen zu
danken, brachte jedoch kein Wort heraus.
»Les, hör zu. Verstehst du mich?«
»J-j-ja. So...kalt.« Sie schloß die Augen und
überließ sich dem Zittern. Er ging im Schlafzimmer herum. Dann war er neben ihr
am Bett, drückte sie an sich.
»Les.« Sein warmer Atem ließ ihre Haut prickeln.
Er strahlte Wärme aus. »Ganz langsam atmen.« Er hielt sie fest. »Ich bin da.
Hab keine Angst.«
Sie fröstelte, dann lehnte sie den Kopf an seine
Brust. Das Zittern ließ nach, das Herz beruhigte sich. Seine Wärme ging auf sie
über. Das beklemmende Gefühl in der Brust löste sich. »O Silvestri«, murmelte
sie. Sie schlang die Arme um ihn und hielt sich fest, als hinge ihr Leben an
ihm.
Kurz
vor halb sieben, der eingestellten Weckzeit, wachte Wetzon mit einem
euphorischen Gefühl auf, das sie wie ein Wunder empfand. Es ähnelte den
Nachwirkungen einer Migräne, wenn der Schmerz verschwunden ist, die Muskeln
entspannt sind und das Gefühl von Frieden und Freude sich steigert. War es
möglich, daß sie noch vor wenigen Stunden überzeugt gewesen war, sie würde
sterben?
Sie lag in Silvestris Armen und dachte: Hier
gehöre ich hin. Sie hatten sich während der Nacht zweimal geliebt, mit
einer Intensität, die sie erstaunt und vielleicht sogar geängstigt hatte.
Sie legte den Kopf zurück und küßte sein Kinn
mit den vertrauten dunklen Stoppeln. Er rührte sich und machte die Augen auf.
Im ersten Augenblick war er verwirrt, wo er sich befand, dann spannten sich
seine Arme fester um sie.
»Was empfindest du?« Seine Stimme klang rauh und
kratzig.
»Frieden«, antwortete sie. Sie schob sich auf
ihn. »Und Liebe.«
Seine Hände fanden ihr Kreuz und spazierten die
Wirbelsäule hinauf. »Les...«
Sein Piepser ging los, und ehe sie darauf
reagieren konnten, ihr Wecker. »Verdammt«, sagte sie.
Sie sahen einander an. Es war komisch. Wetzon
rollte auf den Rücken herum, streckte eine Hand aus und schaltete den Wecker
ab. Silvestri griff zum Telefon und meldete sich.
Das T-Shirt, das sie getragen hatte, lag vor dem
Bett auf dem Boden. Sie zog es über den Kopf, spürte dabei Silvestris Blick und
empfand plötzlich Scheu. Mit ihren Mokassins an den Füßen tanzte sie in die
Küche und schaltete die Kaffeemaschine an, schloß die Wohnungstür auf und holte
die Times und das Wall Street Journal von der Fußmatte herein.
Sie war neugierig, was die Times über den Mord an Dilla brachte.
Silvestri sprach immer noch leise am Telefon,
als sie den Kopf ins Schlafzimmer streckte, also putzte sie sich die Zähne und
genehmigte sich eine dampfend heiße Dusche. Sie machte einige Kniebeugen und
Dehnübungen. Alles in Ordnung soweit! Was also war letzte Nacht wirklich mit
ihr passiert? Doch weiter kam sie nicht, weil Silvestri zu ihr unter die Dusche
kam, und erst beim Kaffee kam er auf das Thema zu sprechen.
Er stellte den Becher ab. »Les, hast du mit
jemandem über letztes Jahr gesprochen?« Sein Blick verlangte, daß sie ihm in
die Augen sah.
»Was über letztesjahr?« Sie faltete ihre
Serviette zusammen, faltete sie zum zweitenmal.
»Versteck dich nicht«, sagte er leise. »Daß auf
dich geschossen wurde. Ich spreche von einem Psychotherapeuten.«
»Ach, Silvestri...« Sie tat seine Worte mit
einer Handbewegung ab. Sie wollte sich bremsen, konnte es aber nicht. Es war,
als hätte er auf die Knöpfe gedrückt, und es gab kein Halten mehr bei ihr.
»Nichts da, >ach, Silvestri<.« Er packte
ihre Hand. »Was du letzte Nacht hattest, war ein ausgewachsener, klassischer
Angstanfall.«
Sie starrte ihn entsetzt an. Ein Angstanfall?
Sie kam sich albern vor. »Woher willst du das wissen?« Es kam unabsichtlich
aggressiv heraus. Oder vielleicht war es doch absichtlich. Sie zog ihre Hand
aus seiner.
»Ich habe es selbst einige Male erlebt. Die
Therapeuten bezeichnen es als posttraumatisches Streßsyndrom. Mit besonders
großer
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