Mörderisches Musical
vergraben, folgte Wetzon Fran hinaus in die Shubert Alley und sah ihm
nach, wie er in seinem schaukelnden Gang zum Bus ging. Er griff in seine
Manteltasche und zog einen Notizblock heraus. Die Blätter flatterten im Wind.
»Fehlt jemand?« Seine Stimme trug kaum bis zu Wetzon zurück.
Der Fahrer schlug das Gepäckfach mit einem Knall
zu und stieg in den Bus. Der Motor sprang an, dann füllte sich die Gasse mit
Auspuffqualm. Die Scheinwerfer leuchteten auf. Fran stieg mit einiger Mühe die
Bustreppe hinauf, blieb stehen, schaute heraus und winkte Wetzon zu. Die Tür
schloß sich. Der Bus kroch aus der Shubert Alley auf die 45. Street in Richtung
Broadway.
Wetzon sah ihm gedankenverloren nach, bis er
verschwunden war.
Um schnell aus der Kälte zu kommen, eilte sie
zur 47. Street und zum Edison Hotel , das genau in der Mitte zwischen
Broadway und Eighth lag. Der Coffee-Shop war sehr beliebt geworden, besonders
bei den Produzenten, Theaterbesitzern, Regisseuren und Choreographen, seit das
alte Gaiety Deli, lange ein Broadwayliebling in der West 47. Street, in den
späten Siebzigern geschlossen, wiedereröffnet, geschlossen, wiedereröffnet und
wieder geschlossen hatte. Für die Stammgäste wurde es schließlich zu schwierig,
mit der Ungewißheit seiner Existenz zurechtzukommen.
An der Ecke der 47. Street durchwühlte ein
Stadtstreicher einen Abfalleimer, machte Essensbehälter aus Plastik auf und
warf den Müll auf die Straße. Leute eilten vorbei, wichen sei-nen Geschossen
aus, beachteten ihn nicht, wenn ein Karton seinen Inhalt über ihre Schuhe oder
Stiefel ergoß, weil sie Angst hatten, sich womöglich der Gewalt eines gestörten
Menschen stellen zu müssen. Wetzon fing sich. Was war los mit ihr? Vielleicht
hatte Silvestri recht. Vielleicht sollte sie mit jemandem reden. Vielleicht
sollte sie einfach zum Telefon greifen und Sonya Mosholu anrufen. Sonyas
Spezialität war Bioenergetik gewesen, aber sie war auch Psychotherapeutin,
bearbeitete Körper und Geist. Ja, sie würde Sonya anrufen, sobald sie heute
abend zu Hause war.
Sie schritt schneller aus. Sie wollte Carlos
sehen, bevor er die Stadt verließ.
Auf der Markise über dem Eingang zum Polish
Tea Room stand Café, was Wetzon immer zum Lachen brachte, aber
schließlich griff jeder am Broadway nach den Sternen, Hotels und Restaurants
eingeschlossen.
Die Fenster zur Straße waren beschlagen. Sehen
konnte man nur ein cremefarbenes Schild mit dem Hinweis auf das Angebot des
Tages:
KOHLSUPPE
RINDERGULASCH MIT NUDELN
$ 9.95
Ein günstiges Angebot, durchaus. Wetzon stieß
die Tür auf und sah sich um. Rechts trennte ein Seil einen für die
Theaterhonoratioren reservierten Bereich ab. Die Shuberts, Produzent Manny
Azenberg und andere, die zu der privaten Theatergemeinde gehörten, aßen hier
mittags oft polnische Spezialitäten, die nicht auf der Speisekarte auftauchten.
Eine Theke und ein Raucherbereich befanden sich
hinten im Restaurant. Direkt links von Wetzon gab es etwa ein Dutzend Tische.
Nur ganz wenige waren besetzt. Carlos saß am letzten Tisch, vor dem
beschlagenen Fenster. Er wirkte eindeutig unglücklich, und er war nicht allein.
Silvestri saß bei ihm.
Weder
Carlos noch Silvestri bemerkten sie; sie steckten die Köpfe zusammen,
Silvestri redete eindringlich. Carlos hörte zu, nickte. Wie zwei Verschwörer.
Was für eine komische Wendung. Sie starrte zur Decke hinauf, die sich hoch über
der heruntergekommenen, schmuddeligen Einrichtung wölbte. Alles war in
phantasielosen dunklen Braun- und Beigetönen dekoriert.
Showplakate waren ohne System über die freien
Wände verteilt. Sam Meidner saß vor einer Suppenschüssel allein an der Theke
und löste nebenbei das Kreuzworträtsel im Londoner Observer. Der Hotshot- Komponist
entdeckte sie und spitzte die Lippen zu einem Kuß. Würde sie auf seine
Annäherungsversuche jemals eingehen, bekäme er sicher Angst vor seiner eigenen
Courage.
Als Wetzon näherkam, sah sie, daß der Tisch ein
Morast aus verschüttetem Kaffee und aufgeweichten, weggeworfenen
Süßstofftütchen war, in dessen Mitte zwei dreckige Becher standen. Silvestri
trug ein neues Tweedjackett über einem dunkelblauen Rollkragenpullover, Carlos
war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Die zwei waren so in ihr Gespräch
vertieft, daß sie sie erst bemerkten, als sie direkt vor ihnen stand.
»Du meine Güte, ihr habt ja eine schöne
Schweinerei gemacht.«
»Häschen!« Carlos sprang auf. Sein schlechtes
Gewissen war
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