Mörderisches Musical
Tu das nicht.« Was für ein
Stück Scheiße er war; er verletzte so viele Menschen, und sie hatte schon
wieder Mitleid mit ihm.
»Und jetzt hat Poppy mir auch noch Smitty weggenommen.«
Tränen rollten über seine Wangen in den Bart. Er versuchte, den Kopf in die
Hände zu legen, doch das war nicht einfach mit dem Stützkragen.
Lieber Gott, dachte Wetzon, wie um Himmels
willen komme ich da heraus? War dieser Smitty, der junge Mann, für den sich
Carlos interessierte, derselbe, den Mrs. Mort — Poppy- in ihrem Wagen nach
Boston mitgenommen hatte?
»Mort, warum bist du nicht bei der Technikprobe?
Wo sind die anderen? Du kannst nicht einfach hier herumsitzen und trinken und
dir leid tun. Du mußt eine Show auf die Beine stellen. Eine Menge Leuten hängen
von dir ab.« Sie stand auf und machte einen Schleifschritt. »Komm schon, Junge.
Ihr müßt euch zusammenraufen.« Sie griff nach dem marineblauen Dufflecoat, der
auf einem leeren Stuhl lag, hielt ihn bereit, während Mort mühsam die Rechnung
unterschrieb, und legte ihn, als er stand, um seine Schultern. Ihren langen
Schal schlang sie doppelt um den Hals und zog die lavendelfarbene Baskenmütze
über Stirn und Ohren. Bostoner Winter waren kein Spaß. Draußen bot ihnen der
Portier ein Taxi an, doch Mort winkte ab, und sie gingen das kurze Stück zur
Boylton Street und zum Colonial Theatre zu Fuß. Sie bemerkte sofort, daß
Mort den Stock eigendich nicht brauchte. Er benutzte ihn als Stütze, um bei den
Menschen, die er beschimpfte, Mitleid und unangebrachte Schuldgefühle zu
wecken.
Beinaähe wäre sie am Theater vorbeigegangen. Wo
war die alte Anzeigetafel geblieben? Verschwunden, anscheinend durch ein
einfaches Brett ersetzt. »Wie soll ohne die Leuchtanzeige jemand merken, daß es
ein Theater ist?« fragte sie Mort, der nur knurrte.
Doch die Leute merkten es offenbar. Vor dem
Kassenfenster standen acht Personen an. Der Anblick hellte Morts Stimmung
beträchtlich auf.
Ein großer Mann in karierter Sportjacke hielt
ihnen die Tür auf. Mort machte Wetzon ein Zeichen. »Das ist Bob.«
»Bob Foley«, sagte der Mann. »Hausverwalter.« Er
reichte Wetzon die Hand.
Sie nahm sie. »Leslie Wetzon. Was ist mit der
alten Anzeigetafel passiert?«
»Ein Lastwagen hat sie beim Zurückstoßen
heruntergerissen.«
»Jammerschade.«
»Unter der alten kam allerdings eine wunderbare
noch ältere mit Muschelornamenten zum Vorschein, aber sie mußte ersetzt werden,
weil sie brüchig war und gefährlich hätte werden können.«
Mort machte ein böses Gesicht und ging wortlos
hinein. Wetzon sah Foley an, zuckte die Achseln und folgte Mort.
Das Colonial Theatre war fast ein
Jahrhundert alt, eine alternde Schönheit, eine Kurtisane, noch immer üppig von
den Logen bis zum Proszenium. Es war eine Rokokopracht: Satinholztäfelung, mit
Blattgold überzogenes Schnitzwerk, ein gemalter Fries in der Kuppel des Hauses,
Wandgemälde. Für Wetzon war es mit Abstand das schönste alte Theater in den
Vereinigten Staaten.
Innen war das Haus dunkel bis auf die Lämpchen
im Orchestergraben, das Licht vom Regiepult, auf Holzbohlen aufgebaut, die über
mehrere Sitzreihen vorn in der Mitte gelegt waren, und natürlich die
Bühnenbeleuchtung. Es herrschte eine chaotische Atmosphäre.
Wetzon wartete, bis ihre Augen sich an die
Dunkelheit gewöhnt hatten. Auch nach so vielen Jahren spürte sie immer noch
dasselbe aufregende Prickeln, wenn sie zum erstenmal das Bühnenbild sah, wenn
sie miterlebte, wie eine Show zu atmen begann. Und auf der Bühne befand sich
eine besonders schöne, gemalte und konstruierte Ausstattung mit Laufstegen und
Streben, ein mehrfach unterteilter Bühnenboden, jeweils in einem anderen Winkel
geneigt. Scheußlich, wenn man darauf tanzen mußte, aber ein Vergnügen für das
Auge.
An dem Brettertisch saßen mehrere Gestalten vor
Computern. Sie trugen Kopfhörer, hielten Clipbretter und Drehbuchseiten in den
Händen und riefen Stichwörter. Der Tisch war ein Schlachtfeld aus
Kaffeebechern, halb gegessenen Speisen, zerknüllten Papiertüten und Servietten.
Beleuchtungsausrüstung und Kabel lagen in den Gängen herum.
Carlos stand am Orchestergraben und beobachtete
die Darsteller, die sich im kompletten Kostüm durch eine Nummer sangen und
tanzten, an die Wetzon sich von dem Vorführband erinnerte.
Mort warf ihr seinen Stock zu, und sie fing ihn
auf. Er ging sofort den Mittelgang hinunter, gestikulierte zu den Leuten am
Computer und gesellte sich zu Carlos, um mit diesem
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