Möwennest-Reihe Gesamtband (German Edition)
irgendwann völlig erschöpft hinfiel und sich die Knie aufschlug. Flach sog sie kalte Luft ein, spie sie pfeifend aus und sog erneut einen Schwall ein. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell, schneller als gesund gewesen wäre. Sie hyperventilierte. Schweißperlen rannen von ihrer Stirn über das heiße Gesicht. Ihr Körper glühte.
„Ruhig“, m ahnte eine innere Stimme. Das war einfacher gesagt als getan. Sie hatte das Gefühl, ersticken zu müssen und gleichzeitig die Angst, im nächsten Augenblick von einem Haufen grauenvoller schwarzer Vögel angegriffen zu werden. Sie konnte das Trippeln der heranhüpfenden Biester auf dem Asphalt hören. Das Hacken der Schnäbel. Das Flattern der Flügel. Sie musste auf die Beine kommen. Musste weg von hier, weiter weg von dem Parkplatz, dem Auto, den Dünen …
„Reiß dich zusammen, Monica“, schimpfte die innere Stimme.
Was weißt du schon , dachte Monica.
Ihre Hände bekamen eine Metallstange am Fahrbahnrand zu greifen. Sie zog sich mit aller Kraft daran hoch.
„Hier gibt es keine Vögel. Du halluzinierst“, versuchte die Stimme sie weiter zu beruhigen. „Dein Kopf ist wirr, weil er nicht genug Sauerstoff bekommt. Immer mit der Ruhe, Kind.“
Das war bei allem Erlebten in dieser Nacht nur schwer zu glauben. Doch für einen weiteren Sprint hatte Monica ohnehin keine Luft mehr. Ihr Atem ging weiterhin viel zu schnell. Ihr blieb nichts anderes übrig, also stützte sie sich gegen die Stange, schloss die Augen und versuchte die Kontrolle über ihren Körper zurückzuerlangen.
Es funktionierte. Die Geräusche, die sie glaubte zu hören, wurden langsam leiser, bis sie endlich gänzlich verschwunden waren. Die Beklommenheit wich zusehends einer tiefen Erschöpfung. Ihre Beine schlotterten. Sie war schlichtweg am Ende. Dass sie hier nicht bleiben konnte, war klar, viel weiter würde sie allerdings nicht gehen können.
Und als hätte sie genau das nach Monicas vorangegangenen Strapazen gewusst, schien die einsame kalte Straße endlich ein Einsehen zu haben. Denn als Monica die Augen wieder öffnete, sich schwerfällig aufrichtete und den Rücken durchdrückte, bemerkte sie, dass die Metallstange Teil eines Straßenschildes war. Dessen Schriftzug war, im schummrigen Licht einer etwas abseitsstehenden Laterne, gut lesbar. Woher Laterne und Schild so plötzlich kamen, war für Monica unerklärlich. Sie war gerannt und gerannt und hatte irgendwann nur noch auf den Asphalt geschaut, bis sie gefallen war. Feststand: Das hier war keine Halluzination. Das Schild war echt, genau wie das Licht. Und der Schriftzug mit dem Pfeil eröffnete ihr, dass sie nur noch einen Kilometer würde bewältigen müssen, um in einen Ort zu kommen, der Westenschouwen hieß.
Monica seufzte erleichtert. Sie kannte Westenschouwen. Die Märchen über das Restaurant auf der Sandbank und die jüngsten Ereignisse kannte man auch in Zierikzee. Der mediale Andrang, so war zumindest im Krankenhaus erzählt worden, musste in den vergangenen Tagen außergewöhnlich gewesen sein und war es immer noch.
In Westenschouwen selbst war Monica einige Male zusammen mit ihrer Mutter gewesen. Sie hatten dort eine gute Freundin ihrer Mutter besucht, Inga Heemstedde. Die alte Blumenhändlerin war es auch, der sie erst vor ein paar Tagen einen kleinen Gefallen getan hatte, indem sie Harry Romdahl unversehrt aus seinem Krankenzimmer gebracht hatte ... Es war sogar mehr als ein kleiner Gefallen gewesen. Sie hatte sich über die Krankenhausverordnungen hinweggesetzt, ihren Job riskiert und war mit diesem üblen Kerl aneinandergeraten. Wenn man es genau betrachtet: Dieser klitzekleine Gefallen war der eigentliche Grund dafür, dass sie in diesen ganzen Mist hineingeraten war.
Sie hätte Inga einen Vogel zeigen und ihre Bitte ausschlagen können. Nur hatte sie das nicht getan.
Und weshalb das alles? Ganz einfach, weil Inga ihr Dinge über Harry Romdahl erzählt hatte, die Monica nicht mehr losgelassen hatten. Dinge, die für sie gleichermaßen schmerzhaft, erfreulich und unglaublich gewesen waren. Natürlich hatte sie sich nicht getraut, Harry direkt darauf anzusprechen und natürlich hing das damit zusammen, dass sie nicht die nötige Zeit dazu bekommen hatte. Jetzt allerdings würde sie vielleicht nie erfahren, ob das, was ihr erzählt worden war, tatsächlich der Wahrheit entsprach.
Sie schüttelte heftig den Kopf. Es half nicht. In ihrem Inneren regte sich etwas, das sie bei all dem Adrenalin bislang verdrängt
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