Möwennest-Reihe Gesamtband (German Edition)
verstummte.
Betretene Stille. Niemand sagte ein Wort.
Und bevor Harry das Grausen nur annähernd verdaut hatte, folgte die nächste Schrecksekunde. Vorne im Laden betätigte jemand mehrmals die Klingel.
„Hallo. Ist jemand da?“, fragte eine unruhige Männerstimme. Keiner der vier Anwesenden reagierte. Harry fühlte sich, als sei er auf der Stelle festgefroren; unfähig einen Finger zu krümmen. Den anderen erging es ähnlich. Die Uhr über der Tür tickte laut. Die Zeiger standen kurz vor der achten Stunde, wenngleich der Tagesanbruch scheinbar unmittelbar vor dem Sonnenaufgang gestoppt hatte. Draußen war es weiterhin so dämmrig wie bereits Stunden zuvor.
Endlich rührte sich Inga.
„Ihr bleibt hier. Ich gehe nachsehen, wer das ist. Keiner macht einen Mucks.“
Die Blumenhändlerin straffte die Figur , ging in den Flur und verschwand vorne im Laden.
Harry lauschte den gedämpften Stimmen.
Der Mann war offensichtlich ein Polizeibeamter mit dem Namen Ben Beelham. Inga kannte ihn. Sie sagte, dass seine Mutter, als er noch ein Kind gewesen war, mit ihm zusammen öfter in ihrem Laden vorbeigeschaut hatte, um Blumen zu kaufen. Er bestätigte dies und berichtete ihr in einem Nebensatz, dass seine Mutter vor knapp einem Jahr nach kurzer schwerer Krankheit gestorben war. Inga beteuerte ihr Mitleid. Er schien abgewinkt zu haben und änderte danach das Thema. Er war hier, um sie zu bitten, Fenster und Türen geschlossen zu halten und außerdem niemanden hereinzulassen, da die Polizei befürchtete, dass sich eine oder mehrere Personen in und um Westenschouwen aufhielten, die als höchst gefährlich eingeschätzt wurden. Inga zeigte sich besorgt …
Mehr bekam Harry von dem Gespräch allerdings nicht mit. Hinter seinem Rücken bemerkte er plötzlich ein Knarren. Instinktiv fuhr er herum und sah, wie Ari Sklaaten die Hintertür ganz aufriss und hinausstürmte. Harry überlegte nicht, sondern sprang auf und rannte hinter ihm her.
Er zischte Monica: „Den schnapp ich mir“, zu, dann war er, ohne weiter darüber nachzudenken, durch die Tür und aus dem Haus.
Ari hatte ein paar Meter Vorsprung, entfernte sich jedoch schneller als Harry lieb sein konnte. Binnen Sekund en hatte Sklaaten Inga Heemsteddes kleinen Gemüsegarten hinter sich gelassen und stürmte auf den Weg, der nach oben in die Dünen führte.
Auf der Spitze der höchsten Düne befand sich eine Bank. Dort hatte Andrej Illic Harry in der Nacht aufgelauert. Diese ungute Erinnerung tat jedoch jetzt nichts zur Sache. Viel mehr beunruhigte Harry der dicht e Nebel, der vom Meer heranzog und der Ari bald halb verschluckt hatte. Noch mehr beunruhigte ihn, dass er dem drahtigen Sklaaten nicht annähernd schnell genug folgen konnte, obwohl er die Zähne zusammenbiss und die Beine so schnell bewegte, wie es ihm an diesem Morgen nur irgendwie möglich war.
Die Erkenntnis, dass er ihn niemals einholen würde, wenn sich der Verfolgte nicht zufällig den Fuß verdrehte oder sich ein Bein brach, sickerte schneller durch als Harry lieb war. Seinen Kopf trieb das in einen inneren Zwiespalt. Einerseits konnte er Ari nicht einfach fortlaufen lassen, weil an dem Wahnsinnigen sein Leben hing. Die Worte Stojic klingelten ihm bei dieser Gelegenheit deutlich in den Ohren. Und es war nicht allein sein Leben, das in Gefahr war. Wenn Sklaaten wirklich im Besitz von Petr Stojics geliebtem Vorhängeschloss war und dieses den Zweck erfüllte diese Geschichte zu einem guten Ende zu bringen, durfte er ihn nicht entwischen lassen. Andererseits war es aussichtslos. Sein Körper war ein einziges Wrack. Selbst im Vollbesitz seiner Kräfte hätte er nur auf den ersten Metern eine Chance gehabt.
Bei einer Jagd über mehrere H undert Meter oder Kilometer war Harry hoffnungslos unterlegen. Bereits auf halbem Weg die Düne hinauf begann seine überlastete Beinmuskulatur zu streiken. Er konnte nicht weiterlaufen, verfiel in einen langsamen Trab und beobachtete hilflos, wie Ari Sklaatens Silhouette oben auf dem Dünenkamm vollends im Nebel verschwand und mit ihr Harrys Hoffnung. Hoffnung worauf?
Eigentlich hatte ihn die gesamte letzte Woche dermaßen desillusioniert, dass er so etwas törichtes wie Hoffnung aus seinem Bewusstsein verbannt hatte. Hoffnung war nur ein Gefühl, das dazu prädestiniert war, einen wieder und wieder in tiefe Enttäuschung zu stürzen.
Nein, Hoffnung war in dies em Moment nicht entschwunden und auch nicht der Glaube daran, dass er lebend aus der Nummer herauskommen
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